Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

Zweites Buch: XII. 107 
Thatsache der Erfahrung, welche nach Berengar's rationalem 
Denken eine irrationale, also unmögliche war. Einen Widerspruch 
aber zwischen Idee und Empirie zuzugestehen, war durch diesen 
Idealismus verboten. Also blieb nur übrig, den Begriff des 
Menschen auf die thatsächlich Vernünftigen einzuschränken; alle 
nicht Vernünftigen wurden aus dem Bereiche auch der Menschheit 
ausgeschlossen 1). — Indessen dabei war doch nicht zu verharren. 
Was half es die Zustände dieser Welt sich anders vorzustellen 
als sie waren? als isolirter Quietist einem grämlich stimmenden 
Pessimismus sich hinzugeben? — Jene durch Berengar's wissen⸗ 
schaftliches Urtheil aus der Gesellschaft Ausgestoßenen galten doch 
als Mitglieder derselben, galten als Menschen in der gemeinen 
Vorstellung, und diese wirkte auch auf ihn wie eine unheimliche 
Gewalt. Mochte er als Idealist noch so sehr geneigt sein, die⸗ 
selbe zu verachten; als Mann, welchem es Bedürfniß war, die 
Herrschaft der Vernunft als eine in der That allgemeine nachzu— 
weisen, mußte er sich bemühen, dieselbe auszubreiten auch über 
die Grenzen der schon vernünftig seienden Menschheit. Das 
heißt, die empirische Welt war um jeden Preis in eine vernünftige 
zu verwandeln. Ein Unternehmen, welches allerdings nur moti— 
birt werden konnte durch die Zuversicht, daß der schroffe Gegen— 
satz in der nach gewöhnlichem Sprachgebrauche wirklichen Welt, 
welchen er als Pessimist als einen unüberwindlichen angenommen 
vyatte, schließlich doch überwunden werden könne. Statt „die Un⸗ 
oernünftigen“ als Unheilbare zu betrachten, mußten sie vielmehr 
als bedingt Vernünftige, zur Vernünftigkeit Ueberzuleitende vor— 
ausgesetzt werden. So erklärt es sich, daß Berengar zum Sturze 
der „Unvernunft“ nicht aufhört das, Mittel der Argumentation 
zu verwenden. Er schwingt das Schwert der Dialektik, um zu 
verwunden, aber zugleich um heilen zu können: die „Unvernünf— 
tigen“ sollen überführt, also ihre schlummernde Vernünftigkeit 
geweckt werden. Je mehr aber unser Polemiker diesem Gedanken 
nachgab, um so rascher schien sich die ganze Weltbetrachtung ändern
	        
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