Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

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Zweites Buch: XV. 
nichtsdestoweniger eine unbestreitbare Thatsache, daß die Epoche 
jener Kirchenreform, welche nur auf dem Fundamente eines über— 
spannten Supranaturalismus erzielt werden konnte, in Rom von 
freidenkerischen Neigungen begleitet war; daß er selbst durch das 
Dulden einer gewissen Unbestimmtheit der Lehre dem religiösen 
Individualismus Rechnung zu tragen bereit war. — Allein das 
durchschlagende Bedürfniß der Zeit erheischte vielmehr eine gestei— 
gerte Präcision, ein reicheres Detail, eine festere Normirung. 
Nichts verringerte mehr die Schätzung der Berengarianer 
als der Umstand, daß dieselben in der Negation zwar einig waren, 
in der Position aber einen erheblichen Dissensus 10) nicht verber— 
gen konnten. Den Traditionstheologen gegenüber standen sie wie 
Sin Mann. Man hörte in ihren Reden, man las in ihren Schrif— 
ten die nämlichen Argumente; die Phrasen: „Licht, Aufklärung, 
Freiheit“ waren in aller Munde; die Kritik erklärte sich für un— 
überwindlich, zählte die Stunden der Dauer der verblendeten 
Reaction oder rühmte die Isolirung als das eigenthümliche Vor— 
recht der Vernünftigkeit 13). Aber wenn man nun diese Vernünf— 
tigen des Näheren nach der viel gefeierten „Wahrheit“ fragte, so 
vernahm man vielmehr einen Wirrwarr der Meinungen: jede 
behauptete die wahre, die vernünftige zu sein. Die Disputation 
war zuversichtlich als der Weg bezeichnet, welcher methodisch zum 
Ziele führte; aber diese Methodisten selbst zeigten vielmehr „evi— 
dent“, daß eben dieses ihnen disputabel geworden war. Wie 
war es da zu verwundern, daß demnächst das Gefühl der Ent— 
täuschung in den Reihen selbst der Berengarianer um sich griff? 
— Dem Einen behagte die Rücksichtslosigkeit der Kritik nicht 18); 
dem Anderen schien des erfolglosen Streites längst zu viel, die 
Rückkehr von „den trüben Gewässern der Disputation“ zu der 
Schrift als der reinen Quelle der Wahrheit ersprießlicher zu sein 10). 
Sie wollten weder von diesem noch von jenem Kirchenvater etwas 
wissen; keine menschliche Autorität, nur die Bibel soll gelten. 
Nicht die natürliche Ordnung, die übernatürliche Allmacht ist das
	        
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