Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

Zweites Buch: XV. XVI. 125 
Maß, an welchem wir das Mogliche zu schätzen haben, heißt es 
nunmehr auch bei den Abtrünnigen auf dieser Seite. 
XVI. 
Berengar hatte kein Recht darob so bittere Klagen zu er— 
heben, wie er that. Das eigene thatsächliche Verfahren in Ver— 
gleich mit den theoretischen Idealen war ein zu greller Wider— 
spruch. Kam es darauf an, Anderen Strafpredigten zu halten, 
dann floß der Mund über von den wohlbekannten Paränesen; 
aber selbst Märtyrer zu werden, dazu fehlte ihm nicht, wie er sich 
vorredetet), die Begabung, vielmehr der persönliche Muth. Jeg— 
licher Aufschwung, welchen er nahm, ward immer wieder ge— 
knickt durch die unmännliche Todesfurcht. Statt zu wirklichen 
Leistungen kam es vielmehr zu schwächlichen Velleitäten. Und 
nicht blos dies. Derselbe Mann, welcher im Verkehr mit Ande— 
ren so viel vom Gewissen zu reden verstand, hatte gleichwohl ein 
System der Sophistik erfunden, das seinige zu betäuben. Die Un— 
terscheidung zwischen einer Confession des Herzens und einer Con— 
fession der Lippen, die Apologie der Unverbindlichkeit erzwunge— 
— DDDDDD—— 
rechtfertigung waren Leistungen in einer spinosen Dialektik und 
ittlich entwürdigende Niederlagen zu gleicher Zeit. Die ursprüng— 
liche rigoristische Lehre von der Wahrhaftigkeit, durch die Praxis 
widerlegt, sollte gleichwohl aufrecht erhalten; die abstracte Ethik 
und das persönliche Ethos sollten ausgeglichen werden. Aber war 
denn das so schwer? — Hatte man denn nicht wer weiß wie oft 
erklärt, daß man nur mit Vernünftigen sich zu verständigen ver— 
möchte? — Wie darf man die Wissenden lästern, wenn sie in dieser 
rrationalen Welt die rationale Wahrhaftigkeit nicht erreichen kön— 
nen? — Wo die brutale Gewalt herrscht, hat die sittliche Pflicht 
hre Grenzen. Statt jener zu trotzen, ist vielmehr als Mittel der 
Nothwehr die Ueberlistung zu gebrauchen, um sich für höhere 
Zwecke zu erhalten. Warum also nicht eine wahnsinnige dogma—
	        
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