Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

Zweites Buch: XVII. 
— 
von Keinem mehr als von Anselm von Canterbury die Wucht 
dieser Aufgabe empfunden wurde. 
Er hatte die Erbschaft angetreten, welche Lanfranc in der 
Normandie, in Frankreich hinterlassen hatte. Die Geschichte der 
Nachtmahls-Fehde von Anfang bis zu Ende zu erfahren, zu be— 
obachten, war er in der günstigsten Lage gewesen. Er weilte noch 
auf der vaterländischen Halbinselt), als die Scene in Rom im 
Jahre 1059 von sich reden machte. Im folgenden Jahre war er 
Mönch in dem Kloster geworden, dessen Celebrität durch die Par⸗ 
teistellung seines Priors erheblich gesteigert war. Die Episode 
des Stillstands und des Wiederausbruchs des Kampfes erlebte er 
als Nachfolger in demselben Amte. Als Abt hatte er Gelegen⸗ 
heit, die Wirkungen desselben kennen zu lernen. 
Was excentrische Antiberengarianer als Erfolg vorausgesagt 
hatten, schien sich erfüllen zu sollen. Die Negation hatte, wie es 
scheint, Eroberungen gemacht. Die Angriffe auf das Dogma wur⸗ 
den kecker als vordem. Man verachtete in gewissen Kreisen den 
christlichen Glauben als Glauben; die Einfalt der Kirchlichen war 
dem Spotte Preis gegeben?). Anselm redet von Ungläubigen, 
welche, ohne zuvor durch vernünftige Gründe überzeugt zu sein, 
jchlechterdings zum Glauben sich nicht bequemen wollten 3). Of— 
fenbar sind das die nämlichen, welche anderswo die Unfrommen) 
genannt wurden. An andern Stellen wird über diejenigen Klage 
erhoben, welche frech genug seien, gegen das kirchliche Dogma 
Finsprache zu erheben: dieselben erklärten nur in dem Falle glau⸗ 
ben zu können, wenn sie begriffen haben würden; läugneten alles, 
was sie nicht einsahens). Endlich werden „Gläubiger“ erwähnt, 
velche gleichwohl durch die ihnen bekannt gewordenen Einwen⸗ 
dungen und Invectiven beunruhigt wurden ). — 
Es wird kaum gelingen, die drei Classen mit gleicher Sicher— 
heit zu verdeutlichen. Die erste — das ist unzweifelhaft — be—⸗ 
stand aus solchen, welche auch dem Namen nach der christlichen 
Kirche nicht angehörten. Die „Ungläubigen“ waren jene Juden, 
Reuter, Geschichte der Aufklärung im Mittelalter. Bd. J. 9
	        
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