Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

Zweites Buch: XVII. 133 
richtig ist, was wir vermuthen — die Meinungen und Zustände 
daselbst andere geworden, als sie unter Lanfranc's Priorat ge— 
wesen zu sein scheinen, nicht ohne seine Schuld. Jene bis zum 
Extrem getriebene dialektische Schulung in der weltlichen 
Wissenschaft, welche daran gewöhnte, alle Materien dieser Art 
gleichmäßig durch die Technik des Syllogismus zu verarbeiten, 
und die von demselben Meister so stark betonte geistliche Autorität 
hatten wohl in manchem Jünger eine Spannung bewirkt, welche 
unerträglich wurde. Unter den Einwirkungen des Berengarischen 
Streites gerieth der eine oder andere ins Schwanken und versuchte 
die Einheit des Wissens zu finden. Die durch Lanfranc begründete 
conservative Wissenschaft, wenngleich durch Anselm's Tiefsinn 
zekräftigt, vermochte das Bedürfniß der Kritik um so weniger zu 
ersticken, je häufiger man Gelegenheit hatte, die freien Reden 
der Aufklärer unmittelbar oder mittelbar zu erfahren. Eigene 
und fremde Gedanken flossen in einander und wurden doch auch 
unterschieden, um desto unbesorgter Bekenntnisse der Art ablegen 
zu können, wie sie Anselm erwähnt. Und dergleichen vernahm 
er oft genug auch von denen, welche seinem Kloster nicht eigen— 
hümlich angehörten. War dasselbe doch längst nicht mehr die 
abgesperrte Stätte einsamer Asketen; einen Wallfahrtsort??) der 
Wißbegierigen konnte man es nennen. Von Nah und Fern 
kamen Boten mit ihren Paqueten, Pilger mit ihren Nexuigkeiten, 
hren Fragen, ihren Zweifeln, um demjenigen zu beichten, welcher 
allein mächtig genug schien zum Lösen. Und gelöst hat er der— 
zleichen wirklich, wie der Biograph erzählt, nicht blos jenem 
Boso28), welcher, zum begeisterten Jünger geworden, sich nicht 
mehr von ihm zu trennen vermochte, sondern vielen Anderen glei⸗ 
hherweise. Indessen dürfen wir von den Reden, welche dem Genannten 
als Colloquenten in dem Gespräche von der Menschwerdung in 
den Mund gelegt werden, auf die Denkweise der Anderen schlie— 
zen, so war diese neue Gläubigkeit doch nicht die festeste. Sie
	        
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