Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

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Zweites Buch: III. 
Denn dazu war es in der That gekommen und um so schneller, 
je oberflächlicher und übereilter die Kirchlichkeit, je gewaltsamer 
die Verbindung des Christlichen und Humanistischen während der 
Carolingischen Periode auch auf dieser Halbinsel gewesen war. 
Hier bestanden noch immer die alten Rhetorenschulene), nicht 
oon Clerikern, sondern großentheils von weltlichen Docenten ge— 
leitet, gleichwohl von künftigen Geistlichen vielfach besucht?). 
Brammatik, wie man sagte, d. i. die heidnische Literaturs), war 
der ausschließliche Gegenstand alles' Unterrichts daselbst. Mit 
Enthusiasmus las man die Dichter der hehren Vorzeit. Das 
Gedächtniß beschwerte sich gern mit der Last der auswendig ge— 
lernten Verses). In Virgil und Terenz, in Livius und Ciceros) 
war man heimisch; der Geschichte der Heiligen schämte man sich. 
Nicht blos in den Auditorien, auch in dem gesellschaftlichen Ver— 
kehr war der Name der alten Götter in aller Munde: die Unter— 
haltung zeigte ein durchaus mythologisches Gepräge. Man wollte 
schlechterdings wieder antik sein: man schrieb nicht nur in Prosa 
wie in Versen in den zerfetzten Floskeln der alten Meister?), um 
eine barbarische Sprache, welche ein alter Römer schwer ver— 
ttanden haben würde, durch römischen Aufputz zu verzieren. Dieser 
ästhetische Enthusiasmus schlug auch wohl um in einen religiösen. 
Jene poetischen Werke scheinen hier und da in aller Andacht gelesen 
zu sein, gleich als ob es heilige Schriften wären. Jener Vilgard 
n Ravenna, von welchem Glaber Rodulfuss) in seiner verwor— 
renen Weise berichtet, betrachtete Virgil, Horaz, Juvenal als in— 
spirirte Autoren. Ihre Dichtungen waren seine Hausbibel, auf 
die er sich als höchste Autorität berief, wie die Christen auf die 
ihrige. Tausende dachten nicht anders. Wenn es wahr ist, was 
der nämliche Geschichtsschreiber erzählt, daß es dieserhalb zu einer 
Verfolgung kam, nicht nur in Mittelitalien, sondern auch in Si⸗ 
rilien, so ist ohne Zweifel die geheime Verbreitung dieses neuen 
Heidenthums, welches eine Epoche der Cultur einzuleiten meinte, 
dadurch nur beschleunigt. In Wahrheit war dieselbe von einer
	        
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