Full text: Natur und Gott

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Der große Gott des Himmels und der kleine Gott der Erde. 91 
esse wird es in diesem Zusammenhange, daß auch in Indien die nach— 
— 
Daß ähnliche Gedanken spontan an verschiedenen Orten aufgetaucht sind, 
beweist der schon im 4. Jahrhundert in Griechenland bezeugte Glaube, 
daß die Seele, wenn sie rein aus der Gemeinde der Keinen komme und 
die Strafe für ungerechte Taten abgebüßt habe, dem leidenreichen, furcht⸗ 
baren Kreislauf entschwebe. „Glücklicher, Seligzupreisender, Gott wirst 
Du sein statt eines Menschen.“ Im Hades soll die Seele sprechen: Ich 
bin ein Kind der Ge und des gestirnten Uranos; der himmel ist mein 
Ursprung; dann wird sie frisches Wasser erhalten und unter den andern 
heroen ein göttlicher Herr sein!ss). Das Bedeutsame aller dieser Musterien 
liegt darin, daß sie in engem Anschluß an den gestorbenen aber aufer— 
standenen Gott nicht nur die künftige Unsterblichkeit des Menschen vorzu— 
bereiten, sondern ihn zugleich mit der Gewißheit seiner eigenen Neu— 
geburt und damit seine Unsterblichkeit, ja Göttlichkeit zu erfüllen suchen. 
Unverkennbar bewegt sich die paulinisch-johannische Christus-Mustik in 
parallelen Bahnen, aber auch der Abstand ist sehr fühlbar; nicht nur 
gibt die Beziehung auf den geschichtlichen Kreuzestod des Messias Jesus 
dem Gedanken eine größere Kraft und Wahrheit, sondern auch der Er— 
lösungsgedanke zeigt sich hier auf höherer Stufe; die streng monothe— 
istische Haltung verwehrt jede pantheistische Vergottungstendenz; die 
straffe ethische Zuspitzung führt zur Ablehnung nicht nur alles Orgias⸗ 
mus, sondern auch alles Schaugepränges; die entschieden spiritualistische 
Tendenz führt zur Beschränkung der sinnlichen Elemenlte auf einfachste 
Pestandteile (Wasser, Brot und Wein). 
6b. der große Gott des himmels und der kleine Gott der Erde. 
Mit ihrem Beitrag zur Ausbildung der Ideen ewiger Weltordnung 
und ewigen Lebens hat die religiöse Naturbetrachtung der Antike das 
höchste geleistet, was sie zur Vertiefung der religiösen Auffassung und 
Sehnsucht tun konnte. Aber eben damit hatten sich die religiösen Kräfte 
der Menschheit so gesteigert, daß sie sich an die Grenzen der Natur nicht 
mehr binden konnten. Die Naturreligion mußte überwunden und zu 
einer Phase in der Entfaltung des religiösen Lebens, bestenfalls zu einem 
Moment in seiner inneren Wahrheit herabgesetzt werden. Aber ehe wir 
zur Darlegung dieses Prozesses und seiner leitenden Tendenz schreiten, 
ist es angebracht, einzuhalten und festzustellen, wie von dem erreichten 
Standort aus sich die Auffassung der Gottheit gestaltet hat. Nicht min⸗ 
veꝛ) Oldenberg, Buddha S. 23. 
133) Zitiert nach dem Textbuch von Lehmann-Haas? s. 204.
	        
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