Full text: Natur und Gott

102 Bedeutung der Natur für die Religion. 
die Tiefe in der indischen Spekulation. Man fragt, wie es Oldenberg be⸗ 
zeichnend ausdrückt, nach dem Cebenssaft der Wesen und nach dem Le⸗ 
benssaft des Lebenssaftes, nach dem Faden, an den die Geschöpfe ange⸗ 
webt sind, und nach des Fadens Faden, nach dem Wesenhaften, Wah⸗ 
ren der Erscheinung und nach der Wahrheit des Wahren — ein Suchen 
zugleich nach dem Substantiellen in den Dingen und nach dem einigenden 
—X0— 
Den gemeinsamen Grundzug aller Schöpfungsideen bildet es, daß 
sie die gegenwärtige Welt als ein geordnetes Ganzes ins Auge fassen 
und auf die Gottheit zurückführen. Ein spätbabylonischer Mythus er⸗ 
zählt, wie Marduk Himmel und Erde machte, das Jahr bestimmte, für 
die 12 Monate je drei Sterne aufstellte, ssonne und Mond ihre Be⸗ 
stimmung gab, die Himmelstore mit gewaltigen Schlössern versah und 
wächter aufstellte über die himmlischen Wasser. Primitivere Texte be⸗ 
teiligen die ganze Schar der Götter an der Schöpfung, aber alle fassen 
mit mehr oder minder Ausführlichkeit die ganze bestehende Welt und 
ihre Ordnung als Gegenstand der Schöpfung ins Auge. Der gleiche Ge⸗ 
danke findet in Indien schönen Ausdruck: Durch dieses unwandelbaren 
Wesens Gebot gehalten, stehen himmel und Erde fest, stehen Sonne und 
Mond, Tage und Nächte, Hhalbmonate und Monate, Jahreszeiten und 
Jahre; auf dieses unwandelbaren Wesens Gebot fließen die Ströme in 
ihren Kichtungen, preisen die Menschen den Geber, die Götter den Opfe⸗ 
rer, nehmen die Manen beim Löffel (er Totenspende) Platzisr). Auch 
in der Bibel ist die Entstehung des Weltganzen und seiner Ordnung 
das große Thema der Schöpfungres); in besonders einfacher und zugleich 
kunstvoller Weise wird das Werk der Schöpfung in dem berühmten Be⸗ 
richt auf dem ersten Blatt der Bibel vorgeführt. Die göttliche Arbeits- 
woche, der ein Sabbat folgt, führt zu einer Stufenfolge göttlicher Werke 
vom Chaos an, über dem Gottes Geist schwebt, bis zum Menschen als 
dem Schluß- und Zielpunkt des Ganzen. Die Mannigfaltigkeit der Ge— 
bilde wie die Allmählichkeit ihrer Bildung, ihre geordnete Stufenfolge 
und ihr lebendiges Ineinandergreifen wird anschaulich vorgeführt. Alles 
geschieht nach Gottes Willen und schließlich gibt er selbst seinem Wohl⸗ 
gefallen daran Ausdruck. 
Auch sonst ist im allgemeinen die Auffassung der geschaffenen Welt 
als eines guten, ja unvergleichlich wertvollen Werkes unverkennbar. Erst 
spät machen sich die Einwirkungen der Erlösungsreligion in pessimi⸗ 
166) Oldenberg, Buddha S. 24f. 
16r) Oldenberg, Buddha S. 43. 
168) Außer Gen. 1. 2 vgl. hiob 26, 7ff. 38, 4ff. 
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