Goethes Gesamtanschauung. 269
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nung oder Bereitschaft, „sich zu manifestieren, zu differenzieren, zu pola—
risieren“. Jedes Lebendige ist ihm kein Einzelnes, sondern eine Ver—
ammlung von lebendigen selbständigen Wesen, die sich als polare Gegen⸗
sätze in ewigem Haß und ewiger Liebe entzweien und wieder suchen und
so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten be—
wirken; bei allen bleibt die Natur so lange normal, als sie unzähligen
inzelheiten die Kegel gibt, sie bestimmt und bedingt; Abnormitäten tre—
ten erst auf, wenn die Einzelheiten obsiegen und auf eine willkürliche,
ja zufällig erscheinende Weise sich hervortunss).
Indem nun Goethe alle Organismen, überhaupt alle Naturphäno—
mene in eine kontinuierliche Reihe ordnet, die vom einfachsten zum kom—
pliziertesten aufsteigt und deren Glieder durch fließende Übergänge ver—
zunden sind, ergibt sich ihm ein Bild des Naturganzen, das von den ein—
fachsten Phänomenen zu den kompliziertesten aufsteigt. Mit der Abstam—
nungslehre hat freilich diese Anschauung nichts zu tun. Ihr steht er nur
insofern nahe, als er, ein Vorläufer CLyells, für die ununterbrochene Kon—
tinuität der Erdentwicklung eintrat, den Artbegriff verflüssigte und die in
nere Zusammengehörigkeit der gesamten Organismenwelt betonte. Einige
seltene Worte seiner Spätzeit zeigen, daß er, wie es scheint, gegen eine
vorsichtig formulierte Abstammungslehre nichts eingewendet hättesss).
Aber sicher ist, daß der ganze Vorstellungskreis der Deszendenzlehre für
ihn keineswegs im Mittelpunkt des Interesses gestanden hat. Gehört doch
die ganze Theorie in das Gebiet der Ursprungsfragen, die er für unlös—
bar hielt und bereitwillig dem Bereiche des Unerforschlichen zuschob.
Dor allem ist er von dem Rationalismus der spätern Auffassung meilen—
weit entfernt. Ihm bleibt die Natur „geheimnisvoll am lichten Tag“
und gerade darin sieht er den besonderen Keiz ihrer Erkenntnis. „Wir
tappen alle in Geheimnissen und Wundernsss)“. Besonders stark ist ihm
dieser ECindruck des Problematischen bei den Instinkthandlungen der
Tiere. Die Bienen „gehen wie an einem unsichtbaren Gängelband hier—
hin und dorthin; was es aber eigentlich sei, wissen wir nicht“. Ebenso
die Lerche, die ohne zu fehlen, den kleinen Fleck trifft, wo sie ihr Nest
hat. „Alle diese äußern Dinge liegen klar vor uns wie der Tag, aber ihr
inneres geistiges Band ist uns verschlossen?o)“. Verwandt ist der In—
tinkthandlung die geistige Produktivität höchster Art, bei der Verstand
387) Morphologie, W. II 6, 1O ff. 304 ff. II 205f. 221 ff. O. Harnack weist,
wohl mit Recht, für die Grundannahme vieler selbständiger Wesen in jedem In—
dividuum auf Leibniz hin.
388) Vgl. Magnus a. a. O. S. 148-155. 389) Eckermann S. 361.
380) Ebenda 85. 367f.