Full text: Natur und Gott

426 Das Leben und seine Formen. 
kann, besitzt die biologische Wissenschaft, wenn man nicht eine „Mustik“ss) 
einführen will, „die dieser Wissenschaft (speziell der Physiologie) nicht 
eigentümlich ist“, nur die energetischen, morphologischen und chemischen 
Darstellungsmethoden; letztere reichen unverhältnismäßig viel tiefer und 
gestatten, die Dinge bis in die feinsten Vorgänge hinein zu differenzieren. 
Betrachten wir demgemäß die Lebensvorgänge unter der chemischen 
Form eines Stoffwechselse), so können wir (was natürlich streng ge— 
nommen eine Fiktion ist), das Leben als ein dauernd bestehendes Stoff⸗ 
wechselgleichgewicht Guhestoffwechsel) betrachten, das durch den Reiz 
gestört wird; dann besteht die Reizwirkung in der erneuten Herstellung 
des GKeiz-) Stoffwechsel-Gleichgewichts. Allerdings gelingt dieser Aus— 
gleich auf die Dauer nie völlig, was zur Krankheit und Tod führt. Aber 
in der immerhin in hohem Maße vorhandenen Fähigkeit der SeIbst⸗ 
steuerung ihres Stoffwechsels nach dem Bedarf haben wir 
(wie auch in der Keizbarkeit überhaupt) eine allgemeine Eigenschaft der 
lebenden Substanz zu erblicken. 
Im Anschluß an Gedanken von Pflüger vermutet Verworn, daß 
die Eiweißmoleküle der lebenden Substanz eine andre Zusammensetzung 
haben als im toten Eiweiß, Diesen „Biogen“molekülen, die den Tat— 
sachen entsprechend einen vielfach verschiedenen Bau haben müssen, 
schreibt er eine so große Labilität zu, daß sie wie Explosivkörper bei 
leisester Erschütterung zerfallen, ja wie die Blausäure sich in gewissem 
Umfange selbst zersetzen; sie zerfallen dann in einen stickstoffhaltigen 
und einen Kohlehndratkörper. Dem stickstoffhaltigen Biogenrest kommt 
die Fähigkeit zu (wofür chemische Analoga existieren), sich auf Kosten 
der in der Umgebung befindlichen Stoffe zu einem vollständigen Biogen— 
molekül zu rekonstruieren. Führt man diese heute auf dem Gebiete der 
Muskelphysiologie bereits teilweise bestätigtene) Annahmen ein, so 
lassen sich von ihnen aus die experimentell festgestellten Tatsachen des 
sog. Refraktärstadiums d. h. einer zeitweiligen Herabsetzung der Erreg⸗ 
barkeit nach erfolgter Keizung, der Ermüdung, der Hemmungs- und 
Cähmungserscheinungen bei Einwirkung verschiedener Reize (Interfe— 
o) Diese Bemerkung richtet sich besonders gegen Semons Theorie, der die 
Nachwirkung des Reizes in Analogie zur Erinnerung auffaßt. Die Frage einer 
Nachwirkung jedes Reizes im Organismus erwägt auch Verworn, ohne doch (auf 
Grund der von ihm gehandhabten Methoden eine Antwort bieten zu können. Eine 
physiologische Grundlage des Gedächtnisses und andrer psychischer Phänomene 
nimmt auch er an und denkt sie in dem durch die Reizung beeinflußten Ernährungs⸗ 
und Formzustand der betreffenden Neurone gegeben. 
64) V. denkt, was überholt ist, fast ausschließlich an Oxydierungen. 
65) S. oben S. 413. 
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