452 Das CLeben und seine Formen.
solche vorhanden sind, die ein Chromosom weniger, also ein unpaariges,
enthalten, und es liegt nahe, dies akzessorische Chromosom für geschlechts⸗
bestimmend zu halten und die erwähnten Vererbungserscheinungen auf
Verbindung der betreffenden Gene mit dem Geschlechtschromosom zurück
zuführenus). Eine sichere Entscheidung der Frage liegt bisher nicht vor.
Die aus Pflanzen- und Tierversuchen abstrahierten Vererbungs⸗
regeln gelten auch für den Menschen. Aus dem großen, aber noch keines⸗
wegs überall gesicherten Material, das durch statistische und Stammbaum⸗
untersuchungen sowie durch die ärztliche Crfahrung zusammengehäuft ist,
hebe ich einiges zur Veranschaulichung heraus. Alle Farbenmerkmale an
haar, Iris, Haut des Menschen, ebenso Haarform, weiße Stirnlocke,
haararmut folgen den Mendelschen Kegeln. Die Vererbung des Babs⸗
hurger Typus läßt sich seit 500 Jahren verfolgen. Gegenüber dem jüdi—
schen Gesichtstyppus, der aber bei Rückkreuzung gesetzmäßig hervortritt,
dominiert der germanische fast vollständig. Der echte 3wergwuchs (EAte—
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der geistigen) Entwicklung, scheint überwiegend rezessiv zu sein, während
die auf verfrühter Verknöcherung der knorpligen Elemente des Skeletts
beruhende Wachstumshemmung gleich vielen andern Mißbildungen sich
im Erbgange als dominant erweist. Auch Eigenschaften wie Kurz- oder
Canglebigkeit, Linkshändigkeit, Fähigkeit zu Mehrlingsgeburten er—
weisen sich als vererblich. Mit deutlicher Dominanz vererbt sich eine
Stoffwechselstörung wie die Zuckerkrankheit oder vielmehr die Anlage
dazu. Erblich sind ebenso zahlreiche Anlagen zu Augen- und Ohrenleiden
wie zu Muskel- und Nervenkrankheiten.
Von besonderem Interesse ist für den Zweck der vorliegenden Unter⸗
suchungen naturgemäß die Frage nach der Vererbung geistiger Fähig—
keiten und Störungenus). Auf diesem Gebiete sind freilich die Schwierig—
keiten besonders groß und die Erforschung des Erbganges steht noch in
den Anfängen; dennoch liegt bereits so viel an Tatsachen vor, daß man
an der prinzipiellen Durchführbarkeit der sonst beobachteten Gesetz—
mäßigkeiten auch auf diesem Gebiete trotz der großen, von vornherein zu
112) Erwähnt sei die schon auf Darwin zurückgehende Vermutung, daß jeder
(diökische) Organismus die Anlage zu beiden Geschlechtern in sich trage, aber in der
Regel nur die eine Potenz aktiviert werde. Diese von Weismann aufgenommene
These spielt in der heutigen Diskussion eine erhebliche Rolle; vgl. oben S. 437.
115) U. R. Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre 2. A. 22; Goethe
im Lichte der Vererbungslehre 08; E. Kretschmer, Körperbau und Charakter 1921;
herm. Hoffmann, Vererbung und Seelenleben 22; D. Nachkommenschaft bei endoge⸗
nen Psychosen 21; Vererbung der Temperamente 23. W. Peters, Vererbung geistiger
Eigenschaften 1925.