458 Das Leben und seine Formen.
die Mutterpflanzens) und sich durch kräftigere Natur, breitere Blätter,
dunkleres Grün, größere Blumen und dickere Knospen auszeichnet. Auch
aus Abspaltung von einer schon vorhandenen Erbeinheit mag sich, wie
es für Enzyme längst feststeht, eine neue Einheit mit neuer Wirkung
bilden. Aber auch die Möglichkeit ist nicht außer Augen zu lassen, daß
sich durch die Befruchtung eine neuartige Kombination von Erbfaktoren
bildet, die unverändert forterbt. Unter den experimentell erzeugten Mu—
tationen haben namentlich die Versuche von Standfuß und E. Fischer
an Schmetterlingen und von Tower am Colorado⸗-Käfer der Kritik stand—
gehalten.
Durch die Erblichkeitsforschung ist auch der Frage nach der Entste—
hung der Arten eine andre Wendung gegeben. Der landläufige Artbegriff
leidet unter starken Unsicherheiten. Er beruht auf einer Verbindung von sy⸗
stematischer Verwandtschaft (unter morphologischem Gesichtspunkt) und ge⸗
schlechtlicher Affinität (physiologisches Merkmal), aber beide Gesichts⸗
punkte decken sich nicht miteinander, und der erste enthält überdies ein
Moment der Willkür in sich. Anstelle eines konventionellen Begriffs, der
auf Ähnlichkeit der äußern Erscheinung (des Phänotyps) beruht, setzt
die Erblichkeitsforschung den zwar unsichtbaren, aber über die Entwick—
lung entscheidenden und alle ihre Möglichkeiten in sich schließenden Geno—
typ. Allerdings ist das mindestens auf obsehbare Zeit hin nur ein Pro—
gramm, dessen Verwirklichung in den ersten Anfängen steht. Wie kom⸗
pliziert sich die Aufgabe gestaltet, zeigt sich gerade an den bestanaly⸗
sierten Objekten; so hat sich hinsichtlich der Mäusefarben herausgestellt,
daß es mindestens 32 gefärbte Kassen und ebensoviele Albinos gibt.
Bei den Blütefarben des Löwenmauls sind mindestens 14 Erbeinheiten
beteiligt, mit 20 -50 Faktoren glaubt Baur seine ganze Farbenmannig—
faltigkeit erklären zu können. Auf einige Tausend Erbeinheiten schätzt
de Dries die gesamte Erbformel einer Pflanze. Man muß sich weiter
gegenwärtig halten, daß alle diese Erbeinheiten hypothetischer Natur
sind, nur aus gewissen Abspaltungsprozessen äußerlich unterscheidbarer
Merkmale erschlossen; die Vorstellung der Anlagenspaltung erklärt bis⸗
her die bekannten Tatsachen vollständig, aber fie für eine genaue Be—
schreibung des Naturvorgangs zu halten, statt für einen vorläufigen
Behelf, wird man bei ihrer rein schematischen Art Bedenken tragen.
Uber die Natur der Gene und ihre Eingliederung in die Geschlechts⸗
zelle ist nichts bekannt. Eine Identität der Gene mit den Chromoso⸗
men kommt schon deshalb, weil sie in viel größerer Anzahl angenommen
118) Ahnliche Befunde kommen auch sonst vor, vgl. Hertwig a. a. O. S. 223 ff.