Full text: Natur und Gott

Das Leben und seine Formen. 
zellen, den sog. Spinalganglien, zu einem Keflexbogen verbunden sind; 
beim Lanzettfischchen sind sämtliche Teilstücke („Metameren“) noch 
völlig gleichartig, und die Bewegungsfähigkeit ist die Resultante aus 
lauter gleichwertigen Bewegungszentren; allmählich aber differen— 
zieren sich diese, und die Bewegungsformen des Körpers werden 
reicher. Auf der höhe der Großhirnentwicklung wiederholt sich die 
gleiche Tendenz, indem sich den Sinneszentren der Großhirnrinde eine 
nervöse Bewegungsmechanik zuordnet, und die Bewegungsformen sich 
feiner ausbilden. Ein Gegengewicht der Differenzierung aber ist darin 
zu erblicken, daß eine strengere Unterordnung unter das Großhirn, das 
sog. Repräsentationsprinzip, durchgeführt wird. Während bei den nie— 
dern Tieren nur locker untereinander verknüpfte Einzelwerkstätten zur 
Geltung kommen, setzt sich bei dem höhern Säuger, zumal beim Men— 
schen, jede Tätigkeit aus den Komponenten von immer mehr Zentren 
zusammen; selbst am Hufbau der an die Sinnesreize sich knüpfenden 
komplizierten Reflerbewegungen sind gewöhnlich mehrere kortikalers) 
und subkortikale Komponenten beteiligt. 
Betrachten wir kurz die Organe der höheren Sinne. Die phyloge⸗ 
netisch primitivste Stelle nimmt das Geruchsorgan ein. Die erste Groß⸗ 
hirnrinde beginnt bei den Reptilien als Riechrinde; auch sonst zeigt sich 
das Organ beim Menschen als sehr altertümlich, indem es eng an die 
stäbchenförmigen Nervenendigungen onschließt, welche man bei Wür— 
mern über die ganze haut verbreitet findet. An die Organe in der haut 
der Fische knüpfen analog die menschlichen Geschmacksorgane an, deren 
Zentralstätte im Gehirn noch nicht sicher bekannt ist. In beiden Fällen 
sind Bildungen, die auf primitiver Stufe allgemeine Sinnesnerven 
waren, zur Ausübung einer spezifischen Funktion verwendet worden. 
Sehr merkwürdig verläuft auch die Stammesgeschichte des Gehörappa— 
rates. Uralt ist das noch heute in den Bogengängen und in dem Klein— 
hirn fungierende statische Organ, dessen Vorläufer wir als rundliche 
Säckchen mit Steinchen und dgl. schon bei Wirbellosen finden. Dagegen 
zweigt der hörapparat (der Schnecke) erst bei höheren Wirbeltieren ab 
und schreitet allmählich, aber keineswegs gleichmäßig, zu immer höherer 
Ausbildung; ein hörzentrum in der Schläfenrinde ist bei Hunden und 
Affen gefunden. Die Bildung des Sehorgans in der Tierreihe ist nicht 
so gleichartig wie die des statischen Organs. Zwar ein „Auge“ besitzt 
schon der Seestern am peripheren Ende jedes Radius und das zusam⸗ 
mengesetzte Netzauge (Fazettenauge) der Insekten ist namentlich für die 
Wahrnehmung beweglicher Gegenstände sehr leistungsfähig, aber es ist 
188) So nennt man die der Rindenschicht des Großhirns zugehörigen Teile. 
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