Full text: Natur und Gott

Die zentralen Sinnes- und Sprach-Apparate. 549 
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Daß der Formensinn gegenüber dem allgemeinen Orts- und Raum— 
sinn psychologisch wie physiologisch Selbständigkeit besitzt, deutete sich 
schon in den Sensibilitätsstörungen an und soll hier nicht näher aus— 
geführt werden; ebensowenig ist hier die geeignete Stelle, auf die 
schwierige Frage nach dem Werden des Bewußtseinsraumes, insbesondere 
des Tiefeneindrucks oder des Eindrucks des „leeren Raumes“ näher ein— 
zugehn. Keinem Zweifel kann es ja unterliegen, daß von der Sehgröße 
eines Gegenstandes in der Netzhaut bzw. der retina centralis bis zur 
Wahrnehmung des „wirklichen“ Dinges im Raum ein weiter Weg ist, 
der erst auf Grund langer Erfahrung über die wirkliche Lage der Dinge 
und mithin durch ausgedehnte Assoziationsprozesse zurückgelegt werden 
kann. Der anscheinend so einfache Vorgang der Gesichtswahrnehmung 
beruht also auf komplizierter Verarbeitung des ursprünglichen in der 
Sehsphäre zustande gekommenen Eindrucks. Nach dem Gesagten ist es 
erforderlich, mindestens zwei Komponenten der ursprünglichen Erre— 
zung auseinanderzuhalten. Indes wie die Wahrnehmung der Bewe— 
zung nicht notwendig eine mittelbare, auf Vergleichung der Phasen be— 
ruhende sein muß, sondern unmittelbare Empfindung sein kann, die in 
bestimmten pathologischen Fällen auch aussetzt, so wird man im Nor⸗ 
malfall der ursprünglichen Sehempfindung den Inhalt eines „ausge⸗ 
hreiteten Farbigen“ geben, das „mehr oder weniger vom Kaumhaften 
an sich hatue)“; die Fähigkeit dazu werden wir als angeborene in dem 
sinne bezeichnen dürfen, daß sie mit der Reife der beteiligten Organe 
normaler Weise eintritt; von einer punktuellen LCokalisierung des Ur⸗ 
sprungs auch nur der einfachsten visuellen Empfindung kann nach alle— 
dem keine Rede sein. 
Mit der Rezeption des optischen Eindrucks und seiner Gestaltung 
zur Empfindung ist indes die zentrale Tätigkeit keineswegs erschöpfend 
bezeichnet, vielnehr besitzt die Sehsphäre auch bei Abwesen— 
heit aller äußeren Reize eine eigene Aktivität; darauf 
beruht die Empfindung des subjektiven Augenschwarz, die wir bei ge— 
schlossenen Augen haben, die aber bei schweren Zerstörungen der Seh— 
sphäre in Wegfall kommen kann. Auf einer zentralen Tätigkeit beruht 
ferner die sog. Konstanz der Sehdinge. Wäre für die Beschaffenheit der 
GBesichtsempfindungen nur die Stärke der vom Objekt ausgehenden Licht⸗ 
reize entscheidend, so müßten die Dinge bei verschiedener Beleuchtung 
weit verschiedener aussehen als es der Fall ist, z. B. „müßte ein Stück 
Kreide an einem trüben Tage aussehen wie Kohle an einem sonnigen 
1120) Vgl. G. E. Müller 71.
	        
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