Full text: Natur und Gott

602 Der religiöse Wert des naturwissenschaftlichen Weltbildes. 
stoffe zu verhindern, dem Ganzen zuwiderlaufende örtliche Tendenzen 
zu korrigieren usp. Aus dem Widerstreit beider Gesichtspunkte ergibt 
sich für jede Art die Wahrscheinlichkeit ihrer natürlichen Lebensdauereo), 
die zur Zeit der Geschlechtsreife wie des Alterns in gesetzmäßigen, ob 
auch noch wenig erforschten Beziehungen stehen wird. Theoretisch mag 
es vielleicht möglich sein, die Schädigungen, mit ihnen auch den Tod, 
zu vermeiden; tatsächlich ist in vielen Fällen Lebensverlängerung durch 
Beeinflussung der beherrschbaren Lebensbedingungen möglich. Aber die 
Zahl der (möglichen und wirklichen) Schädigungen ist beim vielzelligen 
Rörper unabsehbar mannigfaltig; schon während des Lebens spielt sich 
ein stetiges Absterben gewisser Bestandteile ab, bis schließlich das Der— 
sagen lebenswichtiger Organe dem Lebensprozeß ein Ende setzt. Je 
mehr der Körper zur funktionellen Einheit zusammengefügt ist, um so 
einheitlicher und allgemeiner wird das Sterben; die höchst verfeinerte 
Form bildet der nervös bedingte Tod, der nur bei hoher Organisation 
des Zentralnervensystems und Abhängigkeit aller lebenswichtigen Organe 
von ihm eintreten kann. Der Tod ist also, wie wir zusammenfassend 
urteilen können, wenn nicht durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten der 
lebenden Substanz selbst bedingt, so doch sicher der Preis, mit dem die 
hohe Entwicklung im Organismenreich bezahlt werden muß. 
Damit ergibt sich die eigentümliche Begrenzung des Individuums 
im biologischen Sinne des Wortes. Durch Geburt und Tod ist es für eine 
kurze Zeitspanne eigenen Lebens von dem allgemeinen Leben der Natur 
abgehoben. Im Tode zahlt es der Mutter Erde, deren von Kegen und 
vsonnenschein befruchtetem Schoße es die erforderliche Cnergie entnahm, 
den gebührenden Zoll. Geburt und Zeugung verknüpfen es nach vor— 
wärts und rückwärts unabsehbar weit mit der Geschichte des eignen 
Geschlechts; im Grunde ist das Individuelle an ihm, biologisch be— 
trachtet, rein ephemer; seine Erscheinung (der Phänotyp) ist durchaus 
sekundär gegenüber dem Genotyp, dem Erbe der Vergangenheit. Wie 
der individuelle Organismus in jeder seiner Zellen die Arteigenschasten 
seiner nächsten und entfernteren Vorfahren in sich trägt, Charakterzüge 
und Potenzen, die vermutlich in seinem eignen beschränkten Lebenskreise 
sich gar nicht allseitig und vollständig realisieren können, so überliefert er 
20) Wilhelm Sließ (Dom Leben und vom Tod, 9— 11tes Tausend, 24) ver⸗ 
tritt den Gedanken, daß die physiologische CLebenszeit von vornherein jedem Ge— 
schöpf mitgegeben sei; sie soll sich in eine Summenfunktion von 23 und 28 Tagen 
auflösen lassen als der Lebenszeit, welche der Einheit des „männlichen“ bzw. „weib⸗ 
lichen“ Stoffes, den der Organismus mitbekommen hat, eignet. Indes machen 
bisher die Ausführungen mehr den Eindruck einer geistreichen, z. T. tiefsinnigen 
Zahlenspielerei als einer wissenschaftlichen Theorie. 
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