692 Naturerkenntnis u. Religion i. Lichte d. Erkenntnistheorie.
nicht verstehen, sondern sie enthält ein ganz neues und unberechenbares
Clement und tritt in ihrer schöpferischen Synthese in Analogie zu den
Akten der freien Selbstbestimmung. Man darf sagen, daß dies Eigen—⸗
artige der religiösen Intuition noch stärker aufgeprägt ist als der des
Dichters oder des Denkers.
Man hat nicht selten den Begriff der Offenbarung und noch viel
öfter den der Inspiration auf ästhetischem Gebiete verwendet. Hhamann,
herder, Jacobi, Fries u. a. vertraten eine Offenbarungsidee, von der
aus alle bedeutenden Regungen in der Menschenbrust als Offenbarungen
bezeichnet wurden, alles, was den Eindruck machte, als sei es aus einem
schöpferischen inneren Born hervorgequollen, alle dem Menschengeiste
aufgegangenen Erfahrungen und Schauungen, welche das gewöhnliche
Maß übersteigen und mit dem Stempel des Ursprungs aus einer höheren
Welt versehen zu sein scheinen, kurz alles Geniale und wertvolle Origi—
nale. Den allgemeinen Zusammenhang, der hier besteht, haben wir
schon anerkannt; jetzt aber gilt es, die Eigenart der religiösen Intui—
tion gegenüber der des Dichters und Denkers herauszuarbeiten. Die Selbst—
sicherheit der ästhetischen wie der philosophischen Intuition ruht in der
Erfassung eines reizvollen und belebten Ganzen und verliert sich jen—
seits dieses Rahmens. Auch in der religiösen Konzeption kann diese Idee
eine wichtige Kolle spielen, aber notwendig ist sie ihr nicht; vielmehr
kann der Gegensatz und die feindliche Zerspaltenheit des Daseins durch—
aus die seelische Situation beherrschen. Nicht das Ganze, sondern das
Eine, das not tut, nein, vielmehr das Eine, das wahrhaft machtvoll
ist, gibt dem religiösen Erlebnis die Signatur beim Muystiker wie beim
Propheten.
Deutlich zeigt sich dieser Charakterzug in der starken Passivität,
die dem Erleben der Religion gerade auf den höhepunkten eignet. In
den Geburtsstunden der dichterischen Konzeption ist zwar der Vorgang
ein unwillkürlicher und der direkten Aktivität des Dichters unzugäng—
lich, aber nur selten wirkt der ästhetische Trieb direkt nötigend. Dagegen
der religiöse Vorgang erscheint auf seinem hHöhepunkt allemal als ein
übernommensein und Überwältigtwerden, als Erleiden des Einflusses
einer andern, höheren Macht. Auch beim Künstler kommen Inkubations—
perioden, Dämmerzustände vor, wenn auch nicht häufig; in der Religions—
geschichte bilden Zustände, die in starker Analogie zur hypnotischen Sug-—
gestion stehen, eine ganz gewöhnliche Erscheinung; der „Hörer göttlicher
Reden, der des Allmächtigen Offenbarung sieht, dem die Augen geöff—
net werden“15), vermag nichts anderes zu reden, als er hört; diese Schil—
15) Schilderung Bileams in Num. 24, 4. 16.