694 Naturerkenntnis u. Religion i. Lichte d. Erkenntnistheorie.
allem ist Offenbarung im höchsten Sinne nicht Gesetz, sondern Evange⸗
lium; nicht nur als sittliche Autorität gibt sich Gott kund, sondern als
frei herablassende Gnade. In ihrem Rundwerden in der Seele un—
widerstehlich, erfaßt und durchdringt sie den Menschen; die Schranken
zwischen Gott und Mensch verschwinden; nicht aber ver schwimmen die
Grenzen, die Unterschiede zwischen dem ewigen Vater und seinen Kin—
dern. Gott bleibt gebietender Wille, emporhebende und überwindende
Macht; gewiß, Gott gibt, aber nie gibt er nur träges Behagen, sondern,
indem er gibt, erhebt er; er läßt den Menschen nicht stehen, sondern ihn
sich vorwärts bewegen seinem Ziele zu. Unmittelbar leuchtet ein, daß
wenn es göttliche Offenbarung gibt, sie sich nicht sicherer beglaubigen
kann als durch die Ausströmung von Geist und Kraft; denn wenn alles
in der Welt im trägen und gewohnten Fluß bleibt, wozu dann ein Offen⸗
baren Gottes? Nur wenn sich in der Entwicklung des Einzelnen und
der Menschheit schöpferische Kräfte zeigen, die das Ganze eine neue Bahn
einschlagen lassen, vermag sich die Ahnung zu regen, daß hier der im
Spiele ist, der ewig schöpferisch wirkt. Diese Offenbarung bewährt sich
als göttliche darin, daß sie den Menschen im innersten Punkte seines
persönlichen Seins erfaßt, in seinem Selbstbewußtsein, seiner Freiheit
oder wie wir sonst diese Gott zugewandte („gottebenbildliche“) Seite sei—
nes Wesens nennen wollen, und daß sie diesen Persönlichkeitscharakter
nicht zerstört, nicht zurückdrängt, sondern an ihn anknüpft, ihn aus—
bildet und festigt. Gnade wirkt auf dem Gebiete der Freiheit und schafft
hier Überzeugung, so daß Gottes Dienst Freiheit wird, Sollen und Sein
zusammenfallen, Abhängigkeit von Gott zur Unabhängigkeit in Gott
wird, nicht im Sinne des „Wordenseins“, sondern des Werdens und des
ruhigen Atemholens zu neuer Leistung.
Historisch können wir das Christentum ansehen als mustisches Erleben
Gottes im eignen Innern, das durch engen Zusammenschluß mit der israe⸗
litischen Volks- und Religionsgeschichte die ihm eigne ethischesoziale und
personale Farbe erhalten hat. Aber was hier vorliegt, ist weit mehr
als eine zufällige historische Kombination, vielmehr ein einheitlicher,
innerlich notwendiger Zusammenhang. Immer schon geht die prophe—
—
auf einen geschichtlichen Auftrag hinaus, und der Prophet treibt, indem
er dieses Auftrages, Gottes Zorn und seine Gnade zu verkündigen, sich
entledigt, Gottes Werk. Nun aber tritt der auf, dessen ganzes Leben ge—
tragen ist vom Gefühl der Nähe und der Liebe seines Gottes. Nicht
aus Reflexion und Gedankenarbeit, aber auch nicht aus einzelnen Er⸗
lebnissen ungestümer Begeisterung erwächst ihm dies Bewußtsein der Got⸗