700 Naturerkenntnis u. Religion i. Lichte d. Erkenntnistheorie.
Pewandtnis und wir werden die eigenartigen Bedingungen, unter denen
der religiöse Erkenntnisprozeß steht, nie außer Augen lassen dürfen,
aber verfehlt wäre es, aus dem Kampfe gegen den reli—
giösen Intellektualismus einen Kampf gegen den In—
tellekt im Glauben zu machen. Denn nur die Wahrheit vermag
wirklich frei zu machen; wir würden darum an einem Tiefsten und
Wertvollsten am Christentum rütteln, wollten wir dem geisterfüllten
Worte die fundamentale Bedeutung, die ihm in allen christlichen Kon—
fessionen, zumal in der reformatorischen Frömmigkeit, beigelegt wird,
bestreiten wollen.
Das Erkennen der Wahrheit bildet mithin einen integrierenden Be—
standteil des christlichen Glaubens, wie er ja ohne die Einwirkung des
Wortes der Wahrheit überhaupt nicht zu entstehen vermöchte. Umge—
kehrt ist religiösse Erkenntnis gar nichts andres als der Glaube selbst,
der über sich und seine Konsequenzen klare, der seiner selbst bewußt ge—
wordene Glaube. Eine Nuance besteht nur insofern, als für den Glau—
bensbegriff ein starkes Willens- und Affektmoment charakteristisch bleibt,
während der Erkenntnisbegriff das theoretische Moment der Klarheit
und Bewußtheit heraushebt, das zwar auch in allem Glauben enthalten
ist, für seine besondere Pflege und Entfaltung aber eine intellektuelle
Befähigung voraussetzt, die nicht alle in gleichem Maße besitzen. Grund⸗
sätzlich gilt, daß die religiöse Erkenntnis keine Erkenntnisquellen auf—
schließt, die nicht schon der Glaube selbst besitzt, und daß sie aufhört,
wahre Erkenntnis zu sein, sobald sie sich von der Wurzel der religiösen
Gesinnung loslöst, der sie alle ihre Gewißheit verdankt; aber ihrem
Keflexionscharakter gemäß führt sie über den bloßen Naivitätsstand⸗
punkt des ursprünglichen Glaubens hinaus, bringt ihn durch Entwicklung
der in ihm beschlossenen Konsequenzen und durch Vergleich mit konkur—
rierenden Uberzeugungen zum vollen Bewußtsein seiner Art, unterschei—
det im Inhalt der religiösen Tradition zwischen Gold, Silber, Heu und
Stoppeln und prüft die neu auftretenden Geister, läßt sich nicht mehr
„wägen und wiegen von allerlei Wind der Lehre“, glaubt auch nicht
mehr auf fremdes Zeugnis hin, sondern erkennt selbst die Wahrheit, be—
harrt in der erkannten. Ist nun aber Heilsgewißheit die Vollendung
des Glaubens, und läßt sie durch Erkenntnis sich steigern, wohl gar nur
durch Erkenntnis sich gewinnen, so gehört auch Steigerung der Er—
kenntnis zur religiössen Zielsetzung des Christentums.
Dieser seiner selbst voll bewußte Glaube muß uns auch die Frage
beantworten können, nach deren Lösung wir suchen, unter welchen Be—
dingungen er steht, und auf welchen besonderen Eindrücken seine eigne