702 Naturerkenntnis u. Religion i. Lichte d. Erkenntnistheorie.
denn eben diese Abhängigkeit ist die geistige Form, in der auf religiösem
Gebiete zur Geltung kommt, daß es sich um wirkliche Erkenntnis han—
delt, um Wahrheit, von der wir nichts abnehmen und zu der wir nichts
hinzutun können?o), die wir erkennen, weil sie uns in Besitz genommen
hat und unabhängig vor uns, „größer ist, als unser Herz“ei). Die Ob—
jektivität des Gegenstandes der Erkenntnis, vermöge deren er dem er—
kennenden Subjekt sein Gesetz auferlegt oder seine Wirklichkeit anzeigt,
den erkennenden Vorgang zu einem notwendigen macht, prägt sich auf
religiösem Boden als erkannte Abhängigkeit, d. h. als Gehorsam des
Glaubens gegen die Offenbarung aus, und in ihm beruht alle Gewiß—⸗
heit; er gibt dem Glauben seine Stärke, seine unbeugsame Entschlossen⸗
heit, seine männliche Kraft. Fragt man aber, wie denn solcher Gehor⸗
sam gegen Gottes Offenbarung zustande komme, so ist es zwar noch
möglich (wovon wir hier absehen), die einzelnen Züge zu analnsieren,
die bei diesem Vorgang die Führung übernehmen, aber es ist nicht
weiter möglich, zu sagen, warum denn diese oder jene Erscheinung den
Charakter der Gottesoffenbarung gewinnt, Gehorsam abnötigt, über—
zeugend wirkt. Es läßt sich nur konstatieren, daß nicht nur in alter Seit,
sondern auch in der Gegenwart solche Offenbarungen, insbesondere die
Jesu Christi, gläubige Aufnahme finden. Der Glaube selber urteilt, daß
der Mensch für das Verständnis dieser Offenbarung geschaffen und
durch seine Lebensführung dafür vorbereitet sei. Im Grunde schafft also
nach dieser Ansicht Gott selbst durch seine Offenbarung den Glauben, und
wie alles göttliche Tun bleibt auch dieses schließlich ein Geheimnis.
7. Die Cigenart der religiösen Sätze und ihr Verhältnis zur Metaphnsik.
Der Einfluß des Gemütes auf die religiöse Erkenntnis ist so unver⸗
kennbar, daß er wohl kaum jemals ganz unbeagchtet blieb; vortrefflich
drückt ihn der bekannte Satz aus: Soviel wird Gott erkannt, als er geliebt
wird. Indes die Erforschung der eigenartigen Bedingungen der religiösen
Erkenntnis gehört doch erst dem letzten Jahrhundert an. Man hat seit
Cotze und Kitschl diese Eigenart dadurch ausgedrückt, daß man die reli—
giöse Erkenntnis in Werturteilen verlaufend denkt, und dieser Ausdruck
ist auch durchaus zutreffend, wenn man ihn richtig versteht. Nennt man
Urteile, welche die Beschaffenheit des Wirklichen unabhängig von der
Beziehung auf das Interesse der Lebewesen ausdrücken, theoretisch,
solche aber, welche diese Beziehung zum Inhalte haben, Werturteile,
so ist deutlich, daß sich letztere durchaus nicht auf theoretische zurückführen
lassen; ebenso unzweifelhaft ist, daß alle Religionen, auch die christliche,
20) Vgl. Act. 20, 27. Gal. I,8. 22) 1. Joh. 3, 20.