Bedeutung der Natur für die Keligion.
Gewiß hat das Wasser auch sein Eigenleben in der Mythologie. UÜberall wird
der sprudelnde Quell, der murmelnde Bach, der rauschende Strom, das tosende
Meer als belebt empfunden und vielfach mit Wesen bevölkert, die zwar mit dem
nassen Element stets in Verbindung bleiben und in ihrer Gestaltung (indem sie
in Fisch- oder Schlangenform auslaufen) stets daran erinnern, aber doch in großer
Selbständigkeit vielfach anthropomorph gedacht werden und das Element be—
leben und gleichsam nach allen Seiten auskosten. Auch hier heben sich aus der
unbestimmt großen Zahl einige besonders hervor, etwa wegen der Heilkraft der
Quelle, der Breite des Stromes oder der gefährlichen Schnellen der Fälle, vor allem
das majestätische Meer, das den Alten neben Erde und Himmel als dritter großer
Urbestandteil des Alls, nicht selten als Urquell alles Daseins erschien. An den
unmittelbaren Eindruck des Meeres können sich dann Interessen der Schiffahrt
und des Handels anschließen. Die mit der Tiefe vertrauten Mächte erscheinen viel⸗
fach als zukunftskundig. Darum werden von der delphischen Seherin auch die
Uymphen, die Quellen des Pleistos und Poseidons Kraft angerufen; auch bei
den Germanen reicht die Verbindung von Quell oder Sluß mit Weissagung bis
auf Cäsars Zeit zurück. Daß die Wassergeister vielfach mit Totengeistern zusam—
menhängen, ist schon obens“) bemerkt; auch die Wassergottheiten brauchen nicht
als Personifikationen des Wassers entstandenss) zu sein. Sehlt es somit nicht
an selbständigen Wurzeln einer auf das Wasser bezüglichen Mythenbildung, so
wäre es doch irrig, im Sinne poetischer Naturbetrachtung die Bedeutung dieser
Momente zu überschätzen.
Weit wichtiger für den religiösen Mythus ist das Wasser in seinem
Zusammenhange mit der VDegetation. Unter der heißen Sonne des Ori—
ents tritt diese belebende Eigenschaft des Wassers besonders deutlich her—
vor. Der Baum „gepflanzet an den Wasserbächen“ wird zum Sinnbild
alles Gedeihens, das Wasser zum Lebenswassers) und der Baum zum
Cebensbaum. Wo das Wasser ausbleibt, ist das Land der Dürre, dem
Mißwachs und der Hungersnot ausgeliefert, ein unerschöpfliches Chema
für Drohung und Verheißung der israelitischen Propheten?o). Die be—
lebende und befruchtende Kraft des Wassers dehnt der heutige Volksglaube
in Syrien auch auf Heilung von Kranken und Befruchtung von Frauen
67) Vgl. S. 55.
ss) So wird nach Baudissin a. a. O. I 174-176 der phönizische Mel—
kart als Meerbeherrscher gedacht, der seiner Natur nach Sonnengott ist. Aühn—
liches läßt sich bei den germanischen und den ugro⸗-finnischen Stämmen nachwelsen.
ss) Nach Karl v. Spieß (Orient. Studien f. hommel II, 328) wird die
Cebensquelle immer zusammen mit einem Baum dargestellt, der immergrün als
Cebensbaum gedacht ist (zitiert nach Lidzbarski, Ginza, 5. XXI).
⁊0) Wenn Jahwe Gericht abhält, verschmachtet der Erdkreis (Jes. 24, 4ff.;
42, 16); selbst die großen Ströme (Jes. 19, 5 ff. Jer. 51, 360f.) und das Meer
(Ps. 50, 2) trocknen aus, aber in der Heilszeit entstehen in der Wüste Wasser—
teiche (Psf. 107, 33 f.) und prachtvoller Baumwuchs (Jes. 41, 18ff.) und ein Strom,
der aus dem Tempelberge hervorbricht, erfreut die Stadt Gottes (hesek. 47.
Ps. A6, 5).