818 Abschließende Ergebnisse und letzte Fragen.
Nur soviel muß zugestanden werden, daß Visionen und Inspirationen
ohne ein tiefes und sehr lebendiges Innenleben kaum erwartet werden
können; vielleicht darf man noch weitergehen und vermuten, daß, wie nach
alter Erfahrung die Vision durch Fasten angeregt wird, so auch durch
gewisse körperliche oder seelische Leiden, die eine hochgradige Reizbar—
keit der Seele herbeiführen, eine Prädispositon zu außerordentlichem
religiösem Leben geschaffen werden kann. Es mag gar nicht selten ein
pathologischer Zustand die Vorbedingung prophetischen Schauens schaffen;
an sich sind beide nicht notwendig verbunden, und kein Verständiger wird
die innere Wahrheit einer religiösen Schauung darum verdächtigen, weil
ihr hervortreten durch einen krankhaften Zustand befördert wurde. So—
weit sich urteilen läßt, geht schon der Satz von W. James zu weit, daß
alles Seltene, Originale mit gewissen Abnormitäten verbunden zu sein
scheint, und daß gerade das neurotische Temperament die Voraussetzung
für eine Inspiration von höherer Gewalt ist. Nur soviel werden wir mit
Sicherheit sagen können, daß die religiösen Erfahrungen und die Art des
religiösen Erlebens notwendig ebenso verschieden sein werden, wie die
eelischen Anlagen der Menschen.
12. Die Naturgrundlagen der Charakterbildung und Kulturgestaltung.
Mit den letzten Ausführungen haben wir bereits an einem wichtigen
Punkte das Problem der individuellen Differenzierung berührt, das
durch neuere Untersuchungen eine erhebliche Vertiefung erfahren hat.
Die alte Lehre von den Temperamenten ist unter dem Einfluß psycho—
pathologischer Konstitutionsforschung wesentlich umgebildet; das erbliche
Moment, der Einfluß des Affektlebens, die dmmamische Struktur eines
Lebensganzen, die die einzelnen Strebungen zu mehr oder minder fester
Korrelation verbindet und über den Gegensatz des Physischen und Psychi—
schen übergreift, bieten hier die Hauptgesichtspunkte. Indem immer mehr
die Erkenntnis sich durchgesetzt hat, daß nicht festgeprägte Eigenschaften
vererbt werden, sondern Reaktionsweisen oder potentielle Ursächlichkeiten,
in der Entwicklung begriffene, aber recht variable Anlagen zur künftigen
Entfaltung, ist notwendig der rein biologische Vererbungsstandpunkt in
seiner Vorherrschaft stark erschüttert, und treten die rein rassenbiologi—
schen Gesichtspunkte (wobei wir ganz absehn von den fanatischen Ver—
tretern irgend einer angeblich reinen Rasse, deren Theorien sämtlich als
veraltet gelten müssen) stark zurück zugunsten der Faktoren der individu—
ellen Entwicklung und der Erziehung.
Psychopathologische verbindet sich in steigendem Maße mit sozialer