ERICH STENGER, PHOTOGRAPHIE.
Die photographische Aufnahme, die in unserer schnelleilenden Zeit den Augen-
blick und seine Ereignisse mit unwiderlegbarer Wahrheitstreue mühelos bildlich
festzuhalten vermag, hat die manuellen graphischen Techniken fast völlig aus dem
[llustrationswesen verdrängt. Neuzeitlicher Bildbericht jeglicher Art ohne Ver-
wendung der Photographie ist undenkbar.
Seit Jahrzehnten hatte man die Geburtsstunde der Lichtbildkunst in das Jahr
1839 verlegt; am 19. August dieses Jahres hatte der Physiker Arago in der Akademie
der Wissenschaften zu Paris die Einzelheiten einer Erfindung des Kunst- und Deko-
rationsmalers Daguerre bekanntgegeben, um sie zum Gemeingut des ganzen Kultur-
kreises zu machen. Das Verfahren bestand darin, versilberte Kupferplatten Jod-
dämpfen auszusetzen, die so entstandene Jodsilberschicht in der Camera obscura zu
belichten und dann mittels Quecksilberdämpfen zum photographischen Bilde zu
entwickeln; als Fixiermittel war damals schon das unterschwefligsaure Natron
bekannt,
Bereits in der Frühzeit erhoben sich gewichtige Stimmen, dem langjährigen
Mitarbeiter Daguerres, dem Joseph Nicephore Niepce, der schon im Jahre 1833
gestorben war und seit 1827 mit Daguerre gemeinsam gearbeitet hatte, den Haupt-
anteil an der Erfindung der Lichtbildnerei zuzuweisen; man will die Grundzüge der
Entdeckung schon in den Arbeiten des Niepce aus dem Jahre 1824 sehen, in welchem
Jer Genannte durch vielstündige Belichtung einer mit öliger Asphaltlösung über-
zogenen Zinnplatte in der Camera abscura ein gedrucktes Porträt zu reproduzieren
vermochte. Zweifellos befruchteten die Kenntnisse, Erfahrungen und Funde des
Niepce die Arbeiten Daguerres weitgehend, dessen Metallbilder, „Daguerreotypien“
genannt, nicht kopierfähig waren: jede Aufnahme war zugleich auch das Bild selbst;
jedes weitere Bild verlangte die Wiederholung der Aufnahme, und als man sich an
Personenaufnahmen heranwagte, da mußte der zu Porträtierende mindestens eine
halbe Stunde in der grellen Mittagssonne sitzen, die man durch vorgeschaltete blaue
Glasfilter erträglich zu machen versuchte. Doch bald gewannen die Schichten an
Empfindlichkeit, und gegen Ende des Jahres 1841 konnte Daguerre bereits Louis
Philipp auf einem Balkon, also im Freien, in 3% Minuten aufnehmen.
Die spiegelnde Oberfläche der Daguerreotypien machte sich stets unliebsam
bemerkbar; nur unter ganz bestimmtem Sehwinkel erscheinen diese Bilder reflex-
los und positiv. Frei von diesen Störungen waren Bilder auf Halogensilberpapier, die
der Engländer William Henry Fox Talbot in jener Zeit herstellte; auf eigenem Wege
hatte er versucht, das optische Bild der Camera obscura chemisch festzuhalten.
Wenn auch die Prioritätsansprüche dieses Erfinders gegenüber Daguerre erfolglos
blieben, so hat er doch sichere und in späteren Jahren erst voll anerkannte Wege
zur Negativherstellung und zu den Kopierverfahren gewiesen.
Das Deutsche Museum besitzt in zwei Räumen eine geschichtlich und technisch
in einzelnen Zweigen bis zur Neuzeit durchgeführte Sammlung, deren hervorragend-
stes Stück die erste nach Deutschland gelangte Original-Aufnahmekamera Daguerres
'st, kenntlich an einem Schild mit dem eigenhändigen Namenszug des Erfinders und
dem Siegelabdruck des Fabrikanten. Eine wesentlich verbesserte Metallkamera
nebst Entwicklungseinrichtung der Firma Voigtländer & Sohn, damals in Wien,
aus dem Jahre 1842, die erste Handkamera, schließt sich an nebst einem Aufnahme-