sehnsüchtig nach Licht und Freiheit. Diese Säule steht im Norden, wo
Tod und Finsternis herrscht.
Die sädliche Emporenstütze
Im Süden ist nicht bloß Himmel, sondern auch das Leben auf Er—
den, Hitze der Leidenschaft, Sinnlichkeit und Wollust. Die Säule steht
nicht im Innenraum der Kirche, sondern am Eingang, so daß sie solch
schlimme Gedanken tragen kann, zumal sie sich an die „Draußenstehen⸗
den“, an die Weltleute wendet. Schon an der Kämpfelschräge zeigt sie
den Gegensatz zur nördlichen Säule. Dort ein Kreisband, das Him—
melshoffnung weckt, hier das Strickgeflecht, das die darunter darge⸗
stellten Menschen vom Himmel ausschließt. Das sind hartlose, schöne
Köpfe. Die beiderseits herabhängenden Haarsträhnen sind zwischen je
wei Köpfen gegenseitig ineinander geschlungen. DSiefe Zusammenflech⸗
tung der Haare hat den Sinn des Verflohtenfeins gemeinsame
Sünde. „Einem Weibe in die Haare, in den Zopf verflochten sein“,
kommt in Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts vor mit Bezug auf
außerehelichen Geschlechtsverkehr. Daß dieses Verflechten im weiteren
Sinne der Verweltlichung genommen wurde, erhellt aus eingm Kir—⸗
chenlied Luthers (N. Gesaͤngbuch, Nr. 20), dessen Schlußvers lautet:
„Das wollst du, Gott, bewahren rein Vor diesem argen GE'schlechte, Und
laß uns dir empfohlen sein, Daß sich's in uns nicht flechte“. Die Köpfe
an unserem Kapitell stellen also solche dar, die in Sündengemeinschaft
verflochten sind. Sie leben noch auf Erden, deshalb sind sie am Südka⸗
pitell. Sie leben froh und unbesorgt, sind aber aus der Lebensgemein⸗
schaft des Himmelreiches ausgeschloͤssen, wie das Strickband über ihnen
anzeigt. Ihnen gegenüber an der Nordsäule sahen wir die armen See—
len im Tode, die das Himmelreich erhoffen, das durch das Kreisband
angedeutet ift.
Die Konsolen
Die Wandstützen der Gewölbegurten in der oberen Kapelle haben
breites Blattwerk ohne Andeutung und Verschiedenheit, von gleicher
Anordnung wie an den Kapitellen' des Kirchenraumes. Die Kirche ist
Sinnbild des Paradieses, Vorhof des Himmelreiches. Blattkapitäle und
konsolen sind als Palmkronen aufzufassen.
Die Kapellensäulen
Die vier schlanken Marmorsäulen des oberen Kapellenraumes haben
gleichartige Kapitelle, wie eben gesagt, Palmkronen. Aber Strickwerk am
Abakus trennt die Baumkronen vom Himmel, den das Gewölbe vor—
stellt. Zwischen Erdenleben und Himmel ist eine Grenzschnur, Tod und
Gericht. „Die Bäume wachsen nicht in den Himmel hinein.“ Die östliche
dieser Saulen zeigt die Besonderheit, daß sie nicht wie die anderen odrei
aus einem Stücke gearbeitet ist, sondern aus zwei Trommeln zusam—
mengesetzt. Ungefähr in halber Höhe verdeckt ein mit seiner Troumel
aus einem Stück gehauener Schaftring die Fuge. Da er mit Absicht und
Mühe angebracht ist, muß er Siun haben.
Das Kircheninnere wird mit dem Paradies verglichen. Die Vierzahl
der Säulen legt den Gedanken an die vier Paradiesflüsse nahe, die wie—
derum mit den vier Kardinaltugenden in Begziehung gebracht werden
(so am Hildesheimer Taufbecken). Soweit waren die Gläubigen zur
Bauzeit unserer Kapelle gewiß in die Symbolif eingeweiht, daß sie
durch die Vierzahl der Säuͤlen an die Kardinaltugenden Klugheit, Ge⸗
rechtigkeit, Mäßigung und Starkmut erinnert werden konnten. Um die—
r Gedanken zu wecken, war es unnötig, an jeder Säule ein besonderes
Merkmal anzuübringen. Es genügie, eule Säule zu kennzeichnen. Der
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