Full text: Die geistige Botschaft romanischer Bauplastik

Sünde“, denn die übrigen Flächenbilder reden von der Sünde wider 
SFotit und vom Sondergericht. Das besprochene Bild zeigt an, gegen wen 
sich die Sünde auflehnt und wer sie richten wird. 
Das Buch in Christi linker Hand ist nicht auf das Marienbild zu be— 
ziehen, es ist Attribut des Richters. Daß Maria auf dieser Seite thront, 
ist aus dem Vorzug des Ostens Weght vor dem Westen zu erklären. 
Ihr Thronsessel steht auf zwei Löwen, deren Köpfe und herabhängende 
Vorderbeine (vergl. die Konsole der östlich nebenan hängenden Säule) 
sichtbar sind. Diese Löwen bedeuten Tod uͤnd Teufel, für Maria durch 
Christus besiegt. Die jeweilige Deutung vielsinniger Symbole wie 
döwe, Adler, Sirene muß aus dem Zusammenhang der Bilder, aus 
Segenüberstellungen, aus dem Orte und der Himmelsrichtung der An— 
dringung erschlossen werden. Ein Löwe, der einen Thron, eine Säule, 
eine Figur trägt, einen Menschen oder ein Tier im Rachen oder in den 
pranken hält, ist niemals als Sinnbild Christi, des Löwen aus Juda 
nzusehen (Schottentor, S. 36, ff.). Auf die Bezeichnung Tod und Teu— 
fel kommen wir zurück, sie ergibt sich aus den Themen der folgenden 
Hiloͤflächen. (Vergl. Wiebel, Ser Bildinhalt der Domplastik in Chur, 
Angeiger für schweizerische Altertums kunde, Band 86, 1834, Heft 4 und 
Band 837, 1935, Heft 1 und 2, an verschiedenen Stellen.) 
über dem öst lichen Fenster ist ein konsolenartiger Kopf mit durch— 
furchtem Gesicht, geöffnetem Rachen. Von ihm gehen beiderseits Arme 
aus, die an Halsschlingen zwei langgekleidete, durch die Kleidung als 
Mann und Weib unterschiedene Gestalten festhalten. Die Zwei bedeutet 
eine Mehrzahl, die zwei Geschlechter vertreten Alle. Die langen Klei— 
der kommen um 1200 bei Geistlich und Weltlich, Reich und Arm vor. 
Die Beiden suchen sich mit den Händen aus der Halsschlinge zu be— 
freien. Die Darstellung, daß der Teufel einen Menschen an einem Hals— 
trick zerrt, kommt öfter vor (Wien, Riesentor; Andlau; über die 
Schlingen des Todes, Teufelsstricke, unterrichtet Scheftelowitz, Das 
Schlingen- und Netzmotiv, Gießen, 1912, S. 6 und 9). Die Vorstellung 
ist Algemeingut der Menschheit. „Wie ein Fallstrick wird er (der Ge— 
richstag, der Tod) über alle kommen, die auf der Oberfläche der ganzen 
Erde wohnen? (Luk. 21, 35). „Der Teufel ist der Menschenmörder von 
Anbeginu“ (Joh. 8, 44). Der mittlere Kopf stellt den Teufel als Tod 
dar, der alle einfängt, wie Vögel in Schlingen. Die Nebenbilder dieser 
Fläche bestätigen die Aufschrift, die durch das Bild über dem Fenster 
gegeben ist: „Der Tod“. 
über dem nördlichen Fenster ist ein Konsolenkopf ohne Entstel— 
lung. In dem langen Haar und Bart dieses Kopfes ist nicht das „über— 
flüssige“ nach einer von Endres (S. 317) bei Augustinus bezogenen Be⸗ 
legstelle zu verstehen, sonst wären all die langen Haare Samsons, 
Chrifti, der Heiligen, der Vornehmen, Sinnbilder des überflusses. 
dange Haare waren die Auszeichnung der Edlen und Freien. Die 
Zaare an fich galten als das Echte, aus innerer Kraft Gewachsene, als 
Sinnbild der Wahrheit und Ehre. Abschneiden der Haare bedeutete Un⸗ 
derwerfung, Absetzung, Schimpf und Entehrung. (S. Schottentor, S. 
14.) Man schwur beim Haare, beim Barte; man berührte beim Schwö— 
ren Bart oder Haar. Die Redensart: Jemand in den Bart greifen, im 
Barte kitzeln, heißt, aus ihm Versprechungen entlocken, ihn zu seinen 
Gunsten umstimmen. An den langen Haarsträhnen und Barthälften 
des mittleren Kopfes nun halten sich zwei Menschen fest, sie hängen 
mit beiden Händen daran. So wird denn der, an dessen Bart und Haar, 
an dessen Eide und Versprechen sie sich halten, ein NMächtiger sein, dem
	        
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