Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

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Gottesurteile 
Vergewaltigung der verwendeten Lebensform nicht zurückschreckt. Der Oberkörper des 
Mädchens ist viel zu schlank und die Beine zu kurz; aber diese Übertreibung paßte 
eben dem Rünstler für die von ihm gewollte Wirkung. Man nennt diesen inneren 
Widerstreit zwischen den Anforderungen der Darstellungskunst und denen der Ausdrucks⸗ 
kunst heute Expressionismus und glaubt anscheinend, das sei etwas Neues. Einen 
Übergriff der rein subjektiven, d. h. der nicht naturnachahmenden Kunst (wie Bau⸗ 
kunst, Conkunst, und etwa reines Farbenspiel), in das Herrschaftsgebiet der nach⸗ 
ahmenden Künste bedeutet sie allemal; die ein Naturgebilde darstellenden Künste 
sollten eben ihre Ausdruckskraft innerhalb dieser Schranken finden. 
Schopenhauer stellt die Baukunst mit der Tonkunst zusammen, weil jene eben⸗ 
falls nicht durch dargestellte Naturform spricht, sondern durch selbstgewählte, nur 
durch die Anforderungen von Stütze und Last in Schranken gehaltene Ausdrucks⸗ 
mittel wirken kann. In der Gotik vergewaltigt tatsächlich der frei in Denkformen 
zestaltende Baumeister den darstellenden Künstler, den Bildhauer, vielfach in einer 
inerhörten Weise. So zum Beispiel, wenn er den Bildhauer zwingt, die in der Leibung 
einer Tür übereinandergesetzten kleinen Standbilder und ihre Schirmdächlein die Biegung 
des Bogens mitmachen zu lassen, so daß sie nun bis zur Spitze immer schiefer stehen, 
also für den Betrachter umfallen müssen. Das ist und bleibt eine Roheit. Es ist übrigens 
zennzeichnend für die Früh- und Hochgotik; die Spätgotik macht sich auch in diesem 
Punkt freier von dem Regelzwang. 
An dem frühgotischen noch rundbogig geschlossenen Tor der Liebfrauenkirche 
in Trier liegen die obersten Gestalten geradezu wagrecht; das heißt sie stehen liegend; 
denn gedacht und gestaltet sind sie als stehend. Das ist kennzeichnend dafür, wie sehr 
eine schulmäßige Beeinflussung das natürliche künstlerische Empfinden schädigen kann. 
Die Liebfrauenkirche bezeichnet einen der eingreifendsten und frühesten Herrschaftsakte 
der nordfranzösischen Bauregel in Deutschland. Nur so, durch Regelzwang und Nach⸗ 
ahmung, die naturgemäß immer das Persönliche und damit die künstlerische Aus- 
druckskraft schädigen müssen, wird diese Empfindungslosigkeit begreiflich. 
Das nackte Königstöchterlein ist als Wasserspeier verwendet, also liegt es wag⸗ 
recht. Aber das ist auch eine solche Vergewaltigung, wenigstens für mein Gefühl. 
Der Bildhauer hat es sicher senkrecht gedacht und erfunden. 
Den Gegensatz von abbildender Kunst und einer unmittelbar das Geistige zum 
Ausdruck bringenden Kunst hebt klar hervor Richard Benz, Die Grundlagen der 
deutschen Kunst, J Mittelalter, S. 48, 53: „Tektonik und Ornamentik an sich, ohne 
Beziehung auf ein permittelndes Wirklichkeitsbild“ ..... „warum Baukunst dem 
Deutschen am meisten entsprechen mußte; weil Baukunst, wie der Deutsche sie schuf, 
mit abbildender Kunst nichts zu tun hat, weil sie das Geistige unmittelbar. ohne 
Vvermittelung eines Wirklichkeitsbildes, mitzuteilen vermag.“ 
Die völlig neue Art von Flächenzier Bandverschlingungen, Linienspiel, Riemen⸗ 
werk), die mit den Langobarden in Oberitalien ganz unvermittelt auftritt — die 
Tatsache als solche gibt selbst Cattaneo widerwillig zu —, ist ganz einfach eine Aus⸗ 
virkung des germanischen Bluts und des ihm entsprechenden Kunstgeistes (vgl. unten 
Abschnitt 28). Diese besondere Art des deutschen Kunstgeistes erklärt zugleich, warum 
die am reinsten geistige, am wenigsten stoffgebundene Kunst, die Tonkunst, in Deutsch⸗ 
and ihre höchsten Offenbarer gefunden hat. Diese Tatsache ist wohl unbestreitbar. 
Bernard Shaw hat noch kurz vor dem Kriege ausgesprochen, daß die ununterbrochene 
Reihe der großen schöpferischen Tonkünstler in Deutschland, von Bach bis Richard 
5trauß und Hans Pfitzner, eine ganz unvergleichliche Erscheinung in der Geistes⸗ 
geschichte sei; sie übersteige als solche noch die Aufeinanderfolge der großen Künstler 
in der italienischen Renaissance.
	        
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