Vorwort
Aber noch weiter zurück in die deutsche Vergangenheit führen uns
diese Zeichen. Die starke welfische Frau des schwachen CLudwig, der
deshalb der Fromme heißt, die Kaiserin Judith, hat für ihren Sohn
jene Teilung des Frankenreichs im Vertrag von Wirten WVerdun) vom
Jahre 845 erzielt. Diese Teilung hat ein germanisches CLand, Nord⸗
frankreich, sprachlich verwelscht; und zugleich hat sie zu stets neu
versuchten Lösungen und neuen Kämpfen geführt; von den Verträgen
der Jahre 870, 879, 880, von Mersen, Ribemont und wieder Verdun;
über 925, das die für Deutschlands Sicherung allein ausreichende
Maasgrenze brachte; über 1552, als die Maasgrenze dem Deutschen
Reiche von Frankreich wieder geraubt wurde; über 16048, 1681, 1738
beziehentlich 66, 1797, 1814 und 15, 1871 und 1009; welch letzterer
Zeitpunkt ganz sicher nicht die endaültige Lösung dieser Grenzfrage
darstellt.
Also; es ist nicht bloße Abschweifung, wenn die Untersuchungen
dieser Schrift, die auf das Weiterleben uralter Bestände der Volks⸗
seele in der Gegenwart gerichtet sind, gelegentlich Vorgänge der
allerjüngsten Vergangenheit zur Erläuterung heranziehen. Dabei ist
freilich die Erregung über diese Ereignisse noch etwas zu spüren;
oder vielmehr, der Verfasser hat sich sogar nicht einmal besondere
Mühe gegeben, jeden lebhafteren Gefühlsausdruck zu unterdrücken;
mich über unser Schicksal nur mit der abgeklärten Ruhe eines schein—
bar Unbeteiligten zu äußern, ist mir eben einfach nicht möglich ge—
wesen. Jene Bemerkungen geben sich ja auch ganz offen als kleine
Nebenbetrachtungen bei der eigentlichen wissenschaftlichen Unter—
suchung und es schadet darum nichts, meines Erachtens, wenn sie
sich im Tone ein wenig unterscheiden von der kühlen Sachlichkeit,
die für den rein wissenschaftlichen Teil selbstverständlich ist.
Die ganze Deutschwissenschaft, nämlich das Werk der Brüder
Grimm, ist ja ursprünglich entstanden aus einer leidenschaftlichen
Bejahung; aus einem ausgesprochenen Willen zum deutschen
Volkstum, der dann auch den Weg wies zu den neuen rein wissen—
schaftlichen Ergebnissen. „Weil ich lernte, daß seine Sprache, sein
Kecht und sein Altertum viel zu niedrig gestellt waren, wollte ich das
Vaterland erheben“, schrieb Jakob Grimm in den 40 er Jahren und
wollte damit, rückblickend auf sein Leben, den Ausgangspunkt seiner
Cebensarbeit bezeichnen. Und in der an Gervinus gerichteten Wid—
mung seiner 1848 erschienenen Geschichte der deutschen Sprache
schreibt Jakob Grimm: „In wie ungelegener Zeit mein Buch er—
scheine, ist es doch, wer aus seinem Inhalt Aufgabe und Gefahr des
Daterlandes ermessen will, durch und durch politisch. Es lehrt,
daß unser Volk nach dem abgeschüttelten Joch der Römer seinen