Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

Die heilige Kümmernis 
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Die Unterkirche des Doms zu Braunschweig ist der heiligen 
Era geweiht; einer sonst ganz unbekannten Heiligen, deren Name 
aber in auffälliger Weise an einen vorchristlichen deutschen Götter— 
namen anklingt, an Er, Erch, gleich Saxnot, Zin. Im Dom zu 
Braunschweig nun wird ein sehr frühes Holzbild eines Gekreuzigten 
aufbewahrt, das jetzt, nach der Reformation und der durch sie 
erfolgten Beseitigung der Heiligenverehrung, allgemein als Christus— 
bild aufgefaßt wird. Von diesem Holzbild sagt Oscar Döring 
Braunschweig, Verlag Seemann) folgendes. Er bezweifelt, daß es 
ursprünglich einen Christus habe darstellen sollen, weil es bekleidet 
sei mit einem Ärmelrocke, während beglaubigte bekleidete Christus— 
bilder überlieferungsgemäß einen ärmellosen Rock zeigten. Ich 
füge weiter hinzu, daß das Bild die Füße nebeneinander, jeden für 
sich angenagelt, zeigt, während die Füße Christi sonst immer auf— 
einander genagelt sind. Döring hält das Bild für die heilige Era, 
der die Unterkirche geweiht war, und von der örtlich dieselbe 
Sage erzählt wurde wie von der heiligen Kümmernis, Wilgefortis. 
„Auch sie ist gekreuzigt worden; für ihre Weiblichkeit dürften die 
langen gescheitelten Haare, die schmalen, elegant gedachten Füße 
und Hände und eine schwache Andeutung des Busens sprechen“ 
Döring a. a. O.). 
Sollten nicht in der Mannweiblichkeit, die offenbar ursprüng— 
lich ist und zu deren Erklärung sich das Volk die merkwürdige 
Legende vermutlich erst eigens hinzugedichtet hat, doch wirklich 
uralte Vorstellungen liegen von dem Stammvater der Mannussöhne, 
des Ingo, Isto und Irmino; den drei Brüdern, aus denen die Ingä— 
vonen und Istävonen und Herminonen hervorgegangen sind, nach 
der von den römischen Schriftstellern berichteten deutschen Stammes— 
sage; an den Urvater Tuisto, den Zwitter, aus dem durch Ur— 
zeugaung das Menschengeschlecht hervorging. 
An dem Braunschweiger Holzbild hängen die Füße einfach her— 
unter; die Nägelmale sehen aus, als ob sie später angebracht seien; 
er hängt am Baum nicht gekreuzigt, sondern wie die Edda erzählt 
Bavamal Vers 138): 
Ich weiß, daß ich hing am windbewegten Baum 
neun Nächte hindurch 
verwundet vom Speer, geweiht dem Odin. 
ich selber mir selbst. 
Das freiwillige Opfer des Ich ist Urerlebnis und deshalb 
das höchste Sinnbild aller höheren Glaubensformen. 
Ich behaupte natürlich nicht, daß das mehr sei als eine Ver— 
mutung. Vielleicht gibt eine genaue Durchforschung des Denkmäler—
	        
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