Full text: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit

Der Lanzenschwinger und Seelenführer 
196 
gewahrt blieb; daß der neue Heilige in die Rolle des vormals an 
dieser Stelle verehrten Gottes hineinwuchs. Nicht nur durch die 
Wahl des gleichen Orts geschah dies, sondern auch so, daß man die 
bestehenden Gebräuche, soweit es anging, übernahm und nur die 
Namen änderte; daß man das frühere Tieropfer zum feierlichen 
Festmahl umgestaltete (vgl. oben Abschnitt 2 und unten Abschnitt 20); 
daß man die besonderen Kräfte des alten Gottes oder seine besondere 
hilfsbereitschaft für gewisse Notfälle auch der neuen Verehrungs— 
stätte zuschrieb. Dieses Bedürfnis nach Übernahme vorhandener 
Verheißungen mußte die Heiligenverehrung befördern, weil die er— 
forderliche Verschiedenartigkeit nur in einer Vielheit von einzelnen 
Helfern zu erreichen war. „Denn, wie der Prophet Jeremias aus 
alter asiatischer Erfahrung heraus sagen konnte, ein Volk verläßt 
seinen Gott nicht; es verändert bloß den Namen“ (Alexander von 
Peez, Englands Rolle im nahen Orient, 1917, 5. 65). So trat der 
Seelenführer und Canzenschwinger Michael vielfach an die Stelle 
des Seelenführers und Canzenführers Wodan. An die Stelle des 
Donnerers und Bauerngottes Donar trat der Wettermacher Petrus. 
Die tölpelhaften Züge, die der Volksmund in Cied und CLegende dem 
Apostelfürsten vielfach angedichtet hat, gehen sehr wahrscheinlich 
darauf zurück, daß auch die germanische Göttersage in ihrer späteren 
Gestalt den groben Bauerngott Donar gern etwas ins lächerliche 
zieht; man denke an das Cied von Herbard in der Edda und an das 
Zwiegespräch zwischen Tor und dem Fergen, in dem dieser, in dessen 
Rolle Odin sich verbirgt, den bäuerisch biederen. ungeschlachten 
hammerschwinger verhöhnt. 
In den Gegenden Deutschlands, die von den Römern besetzt 
waren, ist die Aufeinanderfolge der Gottheiten vielfach eine dreifache. 
Aus dem Heiligtum des keltischen oder germanischen Gottes wird 
ein Tempel des Jupiter oder Herkules; auf dessen Trümmern ent— 
steht eine christliche Kirche. In den rheinischen Gegenden und süd— 
lich des rhätischen Grenzwalles haben sich wahrscheinlich eine An— 
zahl christlicher Kirchen während der Völkerwanderungszeit gehalten 
Franz Franziß, Bayern zur Römerzeit, 5. 435; M. Fastlinger, Die 
Kirchenpatrozinien in ihrer Bedeutung für Althaverns ältestes Kir— 
henwesen, 1897). 
An anderen Orten sind römischchristliche Gemeinden völlig 
untergegangen, so daß später erst wieder ein neues und nun nicht 
vom Mittelmeer her, sondern von nordischen Glaubensboten ge— 
drachtes Christentum an die Stelle getreten ist. 
In Worms, in Mainz, in KRöln und anderweit hat man früh— 
christliche Grabsteine gefunden; sie sind lateinisch abgefaßt, tragen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.