Rolandssäule, Irmensul
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dartun können, daß sie diese Bedeutung — von der Weltsäule, die
das All trägt“ — haben müsse.“ — —
Die ganze Denkmälergruppe, Rolandsäule, Irmensul, gibt
uns aber einen merkwürdigen Fingerzeig. Der nordische Mensch hat
von den ältesten Zeiten her bis in die neuesten einen merkwürdigen
Hang dazu, bei allem Bauen und Gestalten, das sich auf Glaubens—
sinnbilder und Götterverehrung bezieht, das Werk seiner Hände mög—
lichst in die Höhe zu türmen und diese Richtung über jedes Zweck—
erfordernis und über alles menschliche Maß hinaus zu steigern. Der
Norden baut den Sitz für die Gottheit nicht nach dem Vorbild seiner,
des Menschen Behausung. Ihm, dem Vordländer, ist die Sonne die
höchste der aus den Naturgewalten vermenschelten Gottheiten, der
„Elementargötter“; die Sonne, die dem Nordländer nur wohltätig
ist, die nur wärmt, nicht brennt; anders als in südlicheren Breiten,
wo der Neger von ihr sagt: „Kaum ist die eine unten, so kommt eine
neue, die um kein Haar besser ist als ihre Vorgängerin“. Die Sonne
aber bescheint am Morgen zuerst die Spitzen der Berge und sie ver—
weilt beim Verschwinden am längsten auf den Bergeshöhen. Die
Bergeshöhe erscheint deshalb als die Wohnung der Sonne und des—
halb schichtet der nordische Sonnenverehrer hohe Steindenkmale.
„Die Sonnenverehrung hat den Menhirgedanken, den Höhen-, Pfei—
ler⸗ und Säulenkultus gezeitigt“ (Carl Schuchhardt, Alteuropas. 166).
August Rodin bringt in einer Betrachtung über die gotischen
Kirchen die Menhirs in Verbindung mit den gotischen Kirchtürmen.
Es ist nun kennzeichnend, daß diese Neigung zum Turmbau und über—
haupt zur betonten Senkrechten, die Rodin zu jener Gleichung Anlaß
gab, in der deutschen Baukunst überhaupt und in der deutschen Gotik
viel stärker ist als in der französischen. Man vergleiche einmal, wie
viel mehr die Wagrechte 60) etwa in der Stirnseite von Unserer lieben
5rau in Paris und des Doms in Reims vorherrscht als etwa in der
Schauseite des Kölner Doms oder des Ulmer Münsters oder gar der
niederdeutschen Backsteingotikesy Bei diesen deutschen Bausen be—
o) „Die Stirnseite von Unsrer lieben Frau in Paris, die in ihrem Gleichmaß
und den stark betonten Wagrechten etwas Ülassisches hat, was im Grunde wenig
gotisch isn'; Johannes Schinnerer, Grundzüge der gotischen Baukunst, 8. 10
*) „In der Entwicklung von Prachtfassaden haben sich die Franzosen als Meister
erwiesen, im Turmbau waren sie stecken geblieben. Diese Aufgaben haben die Deutschen
unter riesiger Höhensteigerung und völliger Auflösung der MNassen zu aller Welt Be—
wunderung geloͤst.“ Heinr. Bergner, Grundriß der Kunstgeschichte, S. 112. „Es
ist kein Zufall, daß in Deutschland erst der gotische Turmbau die Höhe seiner Ent-
wicklung erreicht. Unverkennbar wendet die Volksphantasie in unserem Lande sich diesem
Bauteil mit Vorliebe zu. Auch ist die Zahl der reichdurchgebildeten Türme in Deutsch
land größer als in Italien und Frankreich und ebenso finden sich hier besonders hohe
Turmanlagen“; Rob. Dohme, Geschichte der deutschen Baukunst, S. 204.