Die Lindwurmkämpfer der Heldensage
93
Die Tübinger Stiftskirche auf dem östlichen Gipfel der Spitz—
berggruppe ist dem heiligen Georg geweiht. Man hatte wohl be—
sondere Ursache, den ritterlichen Georg hierher zu setzen, „nachdem
man nach Beendigung der Kreuzzüge in einem heiligen Drachen—
besieger die geeignete Persönlichkeit gefunden hatte, um damit das
Andenken der nationalen Drachenbezwinger, der Donar, Beowulf,
Siegfried“ — und Dieterich fügen wir hinzu — „in den nordischen
Cändern auszulöschen“ (Ernst Krause Karus Sterne], Trojaburgen
Nordeuropas s. 2). „Der Kampf gegen den Wurm der Finsternis,
der die Sonne und die Wärme gefangen hält, und die Befreiung der
Sonne, der Maikönigin, ist das uralte, dramatische Frühlingsfestspiel
aus vorchristlicher Zeit. Wir dürfen wohl annehmen, daß der
Drachenkampf und nicht die Passion das Urschauspiel der Germanen
und ihrer Nachbarvölker gewesen ist, aus denen sich nicht allein die
Anfänge der dramatischen Runst, sondern auch die Ritterspiele,
Schwerttänze und größeren Festreigen entwickelt haben“ (Krause
ebenda). „Noch im Jahre 1878 suchten die Priester die Feier des
Drachenstichs zu Furth i. W. zu verhindern, weil der Ritter nicht
Georg und die Befreite nicht Margarete heiße, als ob Held Sieg—
fried neben dem syrischen CLichtkämpfer nicht ebenbürtig dastünde“
(J. N. Sepp, Die Religion der alten Deutschen und ihr Fortbestand
5. 77). „Noch deutlicher tritt die symbolische Bedeutung dieser Kämpfe
hervor,*4) wenn man die vielfachen Drachensagen — die merkwür—
digerweise gerade in solchen Gegenden am häufigsten vorkommen,
wo man die Überreste jener Rieseneidechse gefunden hat — im ein—
zelnen näher betrachtet. Gewöhnlich ist es ein alter verfallener
Heidentemnel, in dem der Drache haust, um alle, die sich ihm nähern,
zu erwürgen.“ 68)
Beides trifft, nebenbei bemerkt, auf unsere alemannische Gegend
am Neckar zu. Der Wurmlinger Berg, in dem der Drache haust, war
aller Wahrscheinlichkeit nach eine Stätte vorchristlicher Götterver—
ehrung und Versteinerungen von Riesenechsen werden nicht allzuweit
davon gefunden.
Die uralte Natursage vom Kampf gegen den Wurm der Finster—
nis hängt sich dann an bekannte Träger: sie sucht neue Belebung
69) Beinrich Alt, Die Heiligenbilder oder die bildende Kunst und die theolo⸗
gische Wissenschaft, 5. 84.
6) W. Schäfer, Versuch einer Deutung der Reliefs am Portale der Kirche zu
Großen⸗Linden, Hessen; Archiv für hessische Geschichte und Altertum, Bd. IIl, 1844:
„Vornehmlich ist Hessen das Land“ (P), „wo sogar die Sage vom Lindwurm durch die
Geognosie eine Art historischer Basis erhielt, indem man in Hessen und auch in dem
benachbarten und stammverwandten Thüringen in Kalksteinformationen die ante—
diluvianische Rieseneidechse vorfand.“