Full text: Grundriss der allgemeinen Chemie

372 = _ XI. Die chemische Verwandtschaft. 
erste Wirkung, weil sie proportional der Wassermenge ist, während die 
zweite höchstens der Quadratwurzel aus derselben proportional ist, doch 
wird immerhin dadurch die Rechnung verwickelter. Gleiches gilt für die 
andere Lösung, welcher Wasser zugeführt wird: die Konzentration des 
Wasserstoffs nimmt wegen der steigenden Verdünnung ab, die Dissociation 
nimmt aber eben dadurch zu, und daher ist die Abnahme kleiner, als sie 
sich aus der Verdünnung allein berechnen würde, 
Zwei Lösungen, die mit einer dritten isohydrisch sind, 
müssen es auch untereinander sein. Denn wenn zwei Lösungen 
mit einer dritten isohydrisch sind, so enthalten sie ein gleiches Ion 
in gleicher Konzentration wie die dritte, folglich haben sie auch un- 
tereinander gleiche Konzentration und sind isohydrisch. Auch dieser 
Satz war experimentell gefunden, bevor die Theorie ihn als notwendig 
erwies. 
Es soll noch besonders hervorgehoben werden, dass dies Gesetz 
nur für solche Elektrolyte gilt, welche ein gemeinsames Ion enthalten; 
ist dies nicht der Fall, so treten neue Verhältnisse ein, zu deren Be- 
trachtung wir uns jetzt wenden wollen. 
Wie früher bemerkt worden ist, sind die Lösungen fast aller 
Salze ziemlich stark dissociiert, ebenso die der starken Mineralsäuren. 
Mischen wir z. B. eine verdünnte Lösung von Salzsäure, welche fast 
nur freie Ionen H und Cl enthält, mit einer ebenfalls verdünnten 
Lösung eines Salzes, das wir allgemein mit MA bezeichnen wollen, 
wo M das Metall und A das Säureradikal ist, so wird zum Gleich- 
gewicht erforderlich sein, dass alle positiven und negativen Ionen in 
Bezug auf die möglichen Verbindungen im Dissociationsgleichgewicht 
stehen. Ist nun die Säure des Salzes im freien Zustande ebenfalls 
stark dissociiert, so wird das Gleichgewicht zwischen dem Wasserstoff 
der Salzsäure und dem Säureradikal A gleichfalls annähernd vorhan- 
den sein. Ist aber die Säure HA nur in sehr geringem Masse dis- 
sociiert, wie z. B. Essigsäure, so werden der Wasserstoff der Salzsäure 
und das Säureradikal aufeinander wirken, um nichtdissociierte Mo- 
lekeln HA zu bilden, bis die übrigbleibende Salzsäure mit der gebil- 
deten Säure HA isohydrisch geworden ist. Das Ergebnis wird also 
sein, dass sich auf Kosten des Salzes MA und der Salzsäure eine ge- 
wisse Menge der Säure HA gebildet haben wird, welche um so grösser 
ist, je weniger die Säure dissociiert ist, je schwächer sie also ist. 
Dies ist im Lichte der Dissociationstheorie der Vorgang, welchen 
man bisher die Verdrängung der schwächeren Säure aus ihrem Salz 
durch eine stärkere Säure genannt und einer besonderen chemischen 
Verwandtschaftskraft zwischen dem Metall und den verschiedenen 
Säureradikalen zugeschrieben hat. Wir sehen, dass die Ursache in 
der Natur der Säure liegt; das Metall des Salzes kommt nicht wesent- 
lich in Betracht, denn es hat nur dazu gedient, durch seine Gegen- 
wart das Ion der Säure im dissociierten Zustande zu erhalten. Da-
	        
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