Die verdünhten Lösungen
215
zeigen die Lösungen des Chlornatriums allerdings keine von den Eigen-
schaften des elementaren Chlors; doch sind wir auch gar nicht be-
rechtigt, dies in der Lösung anzuehmen. Denn dies Chlor hat das
durch die Formel Cl, bezeichnete Molargewicht von 71, während das
Molargewicht des in Chlornatriumlösung anzunehmenden Chlors nicht
anders als durch die Formel Cl dargestellt werden kann, da sein Zahlen-
wert 35:5 ist. Wenn also wirklich elementares Chlor in der Chlor-
natriumlösung enthalten ist, so muß es eine allotrope Form des
gewöhnlichen Chlors sein. ;
Ähnliche Überlegungen sind für den anderen Bestandteil des Chlor-
natriums anzustellen; das in den Lösungen enthaltene Natrium hat
nicht die Eigenschaften des gewöhnlichen metallischen Natriums, und
wir betrachten es gleichfalls als eine allotrope Form desselben.
Hieraus ergeben sich die Formeln der Bestandteile zusammengesetz-
terer Salze durch Analogie. Natriumverbindungen irgend welcher Art
können als einen Bestandteil nur dies allotrope Natrium enthalten, und
der andere Bestandteil ist demnach das, was außer dem Natrium im
Salze enthalten ist. Das gleiche gilt für die Chloride. Es schließen sich
also dem allotropen Chlor die Atomgruppen NO, der Nitrate, SO,
der Sulfate, ClO, der Chlorate, CIO, der Perchlorate an, während an-
dererseits das Ammonium NH, und die analogen metallähnlichen
Radikale dieselbe Rolle spielen, wie das Natrium. Um einen kurzen
Namen für diese Stoffe zu haben, nennen wir sie Ionen!), und zwar
die dem Natrium analogen Ionen Kationen, die dem Chlor analogen
Anionen.
Gegen die Annahme dieser Bestandteile kann man das Bedenken
geltend machen, daß sie nie für sich dargestellt worden sind, und ihre
Existenz daher hypothetisch ist. Die Antwort ist einerseits, daß die
elektrischen Eigenschaften, welche diese Bestandteile oder Ionen er-
fahrungsmäßig zeigen, mit Notwendigkeit die Unmöglichkeit ergeben,
sie einzeln in solcher Menge anzuhäufen, daß sie für sich untersucht
werden können; vielmehr können sie wegen dieser Eigenschaften immer
nur so ‚beobachtet werden, daß chemisch äquivalente Mengen Anionen
und Kationen, gleichgültig in welcher Zusammenstellung, in einer ge-
gebenen Lösung gleichzeitig anwesend sind.
Andererseits aber kann man antworten, daß die Existenz dieser
Ionen dadurch gesichert ist, daß sie besondere Eigenschaften aufweisen,
als deren Summe die Eigenschaften der Salzlösungen erscheinen. Am
deutlichsten werden die Verhältnisse aus den Tatsachen, die der ana-
Iytischen Chemie zugrunde liegen. Hier gibt es kaum Reaktionen auf
Stoffe nicht unverändert nebeneinander bestehen können, sondern aufeinander
chemisch einwirken. Folglich können sie sich auch nicht in einer Lösung von
Chlornatrium nebeneinander bilden.
1) Die Bezeichnung rührt von ihren elektrischen Eigenschaften her, die
weiter unten erläutert werden sollen.