Full text: Grundriss der allgemeinen Chemie

Die verdünhten Lösungen 
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zeigen die Lösungen des Chlornatriums allerdings keine von den Eigen- 
schaften des elementaren Chlors; doch sind wir auch gar nicht be- 
rechtigt, dies in der Lösung anzuehmen. Denn dies Chlor hat das 
durch die Formel Cl, bezeichnete Molargewicht von 71, während das 
Molargewicht des in Chlornatriumlösung anzunehmenden Chlors nicht 
anders als durch die Formel Cl dargestellt werden kann, da sein Zahlen- 
wert 35:5 ist. Wenn also wirklich elementares Chlor in der Chlor- 
natriumlösung enthalten ist, so muß es eine allotrope Form des 
gewöhnlichen Chlors sein. ; 
Ähnliche Überlegungen sind für den anderen Bestandteil des Chlor- 
natriums anzustellen; das in den Lösungen enthaltene Natrium hat 
nicht die Eigenschaften des gewöhnlichen metallischen Natriums, und 
wir betrachten es gleichfalls als eine allotrope Form desselben. 
Hieraus ergeben sich die Formeln der Bestandteile zusammengesetz- 
terer Salze durch Analogie. Natriumverbindungen irgend welcher Art 
können als einen Bestandteil nur dies allotrope Natrium enthalten, und 
der andere Bestandteil ist demnach das, was außer dem Natrium im 
Salze enthalten ist. Das gleiche gilt für die Chloride. Es schließen sich 
also dem allotropen Chlor die Atomgruppen NO, der Nitrate, SO, 
der Sulfate, ClO, der Chlorate, CIO, der Perchlorate an, während an- 
dererseits das Ammonium NH, und die analogen metallähnlichen 
Radikale dieselbe Rolle spielen, wie das Natrium. Um einen kurzen 
Namen für diese Stoffe zu haben, nennen wir sie Ionen!), und zwar 
die dem Natrium analogen Ionen Kationen, die dem Chlor analogen 
Anionen. 
Gegen die Annahme dieser Bestandteile kann man das Bedenken 
geltend machen, daß sie nie für sich dargestellt worden sind, und ihre 
Existenz daher hypothetisch ist. Die Antwort ist einerseits, daß die 
elektrischen Eigenschaften, welche diese Bestandteile oder Ionen er- 
fahrungsmäßig zeigen, mit Notwendigkeit die Unmöglichkeit ergeben, 
sie einzeln in solcher Menge anzuhäufen, daß sie für sich untersucht 
werden können; vielmehr können sie wegen dieser Eigenschaften immer 
nur so ‚beobachtet werden, daß chemisch äquivalente Mengen Anionen 
und Kationen, gleichgültig in welcher Zusammenstellung, in einer ge- 
gebenen Lösung gleichzeitig anwesend sind. 
Andererseits aber kann man antworten, daß die Existenz dieser 
Ionen dadurch gesichert ist, daß sie besondere Eigenschaften aufweisen, 
als deren Summe die Eigenschaften der Salzlösungen erscheinen. Am 
deutlichsten werden die Verhältnisse aus den Tatsachen, die der ana- 
Iytischen Chemie zugrunde liegen. Hier gibt es kaum Reaktionen auf 
Stoffe nicht unverändert nebeneinander bestehen können, sondern aufeinander 
chemisch einwirken. Folglich können sie sich auch nicht in einer Lösung von 
Chlornatrium nebeneinander bilden. 
1) Die Bezeichnung rührt von ihren elektrischen Eigenschaften her, die 
weiter unten erläutert werden sollen.
	        
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