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Chemische Thermodynamik
einer Lehre, die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts von
T. Bergmann aufgestellt worden ist. Nach dieser verhalten sich die
chemischen Stoffe gegeneinander wie mechanische Massen, die von
entgegengesetzt gerichteten Kräften angegriffen werden; eine oder die
andere Kraft ist die größere, und dieser gemäß erfolgt der Vorgang.
Da Bergmann diese „chemischen Kräfte“ nur durch die Natur der
Stoffe und die Temperatur bestimmt ansah, so mußte er gleichzeitig
annehmen, daß sie solange wirken, als noch etwas von den umwand-
lungsfähigen Stoffen vorhanden ist, d. h. daß die Vorgänge alle voll-
ständig verlaufen. ;
Während diese Ansicht das Wissen ihrer Zeit, in welcher nur die
‘praktisch) vollständigen Vorgänge gekannt waren oder beachtet wurden,
in genügender Weise darstellten, ergab sich bald bei größerer Aufmerk-
samkeit, daß die nach dieser Theorie nicht möglichen unvollständigen
Reaktionen viel häufiger vorkamen, als angenommen worden war. Um
den Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts entstand daher eine ent-
gegengesetzte Theorie, die von C. L. Berthollet entwickelt wurde.
Ihr Grundgedanke war, daß auf den Verlauf eines chemischen Vor-
ganges nicht nur die Beschaffenheit der Stoffe und die Temperatur
einen Einfluß hat, sondern auch die im Reaktionsgebiet vorhandene
Menge eines jeden beteiligten Stoffes. Dadurch, daß die' aufeinander
wirkenden Stoffe infolge dieser Wirksamkeit verschwinden und die Pro-
dukte sich anhäufen, entsteht eine Ursache, welche eben diesen Vor-
gang behindert und schließlich zum Stillstande bringt. Denn die ent-
standenen Stoffe haben in dem Maße, als sie sich bilden, immer mehr
die Tendenz, die Ausgangsstoffe wieder zurückzubilden, und es tritt
sin Stillstand der Reaktion ein, bevor sie sich hat vollenden können.
Daß trotzdem viele Reaktionen innerhalb der Meßbarkeit vollständig
verlaufen, läßt sich meist darauf zurückführen, daß die Anhäufung der
Produkte irgendwie verhindert wird. Ist z. B. eines derselben gasförmig,
so wird es entweichen und keinen Einfluß mehr ausüben; ist es unter
den vorhandenen Umständen unlöslich, so wird es sich ausscheiden
und sich gleichfalls der weiteren Wirkung entziehen.
Diese Gesichtspunkte haben sich in der Folge als richtig herausge-
stellt. Allerdings hat es sehr lange Zeit gedauert (Guldberg und
Waage, 1867), bis sie sich zu einer wirklichen Theorie der chemi-
schen Vorgänge und Gleichgewichtszustände entwickelt haben. Nach-
dem die Angemessenheit von Berthollets Anschauungen sich durch
die späteren Forschungen zunächst erfahrungsmäßig in vielen Fällen
hat nachweisen lassen, ist später durch die Entwicklung der Ener-
getik und ihre Anwendung auf chemische Probleme eine „chemische
Dynamik“ entstanden, welche die Grundlagen der Bertholletschen
Affinitätslehre trotz. der ungemeinen Erweiterung und Vertiefung des
Gebietes im wesentlichen beibehalten hat.
Die Grundlage dieser Entwicklung bildet das Gesetz der chemischen