Full text: Grundriss der allgemeinen Chemie

Die chemischen Gleichgewichte zweiter Ordnung 353 
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lösungen. Denn eine feste Ausscheidung in einer überkalteten Flüssig- 
keit bleibt darin, und die Kristallisation hört nicht eher auf, als bis 
die Überkaltung beseitigt ist; eine übersättigte Gaslösung treibt dagegen 
einen vorhandenen Keim selbsttätig aus, und bleibt übersättigt, 
Man beobachtet derartige Erscheinungen bequem bei dem als Ge- 
tränk benutzten kohlensauren Wasser (Selters- und Sodawasser), welches 
etwa bei 4 Atmosphären Druck gesättigt in den Handel gebracht wird. 
Ist das erste Brausen nach dem Eingießen in ein Glas vorüber, so 
antwickeln sich gewöhnlich von Stellen aus, an denen das Glas Schram- 
men hat, in denen etwas Luft gefangen bleibt, feine Gasblasen in Ge- 
stalt eines Stromes. Hat man aber das Glas vorher sorgfältig benetzt, 
so bleibt die Flüssigkeit in Ruhe. Jeder Körper, an dessen Oberfläche 
Gas haftet, also insbesondere poröse Stoffe, bringen wieder eine Gas- 
entwicklung hervor. Senkt man in die Flüssigkeit eine oben geschlos- 
sene, mit Luft gefüllte reine Kapillare, so sieht man nur von der 
Grenzfläche der Luft und der Lösung die Blasen aufsteigen, zum 
Zeichen, daß nur dort die Auslösung erfolgt. 
Daß eine Überschreitung des Sättigungspunktes bei der Abwesenheit 
von Gaskeimen eintreten muß, ergibt sich aus der Betrachtung der 
Oberflächenenergie (S. 96). Da die Oberflächenspannung jede Flüssig- 
keitsoberfläche zu verkleinern strebt, so muß im Innern einer kugel- 
förmigen Gasblase ein größerer Druck herrschen, als er für eine ebene 
Fläche sich aus den vorhandenen Verhältnissen ergeben würde, und 
die Kapillaritätstheorie gibt dafür die Formel p = 2y|r, wo p der 
Druck, 7 die Oberflächenspannung und r der Radius der Kugel ist. 
Wenn also ein Bläschen des Gases freiwillig entstehen sollte, so müßte 
es unter einem weit größeren Drucke entstehen, als der Sättigung unter 
den vorhandenen Umständen entspricht. 
Es scheint nach dieser Betrachtung sogar, daß ein Bläschen frei- 
willig überhaupt nicht entstehen könnte. Denn man wird sagen, daß 
im ersten Augenblicke das Bläschen ja unendlich klein, der Druck der 
Formel gemäß also unendlich groß sein müßte. Daß trotzdem frei- 
willige Bläschenbildung eintritt, lehrt, daß die Annahme, es habe die 
Flüssigkeit bis zu unendlich kleinen Dimensionen dieselben Eigenschaften, 
wie in endlichen Mengen, nicht richtig sein kann. Der gleiche Schluß 
hatte sich früher aus anderen Betrachtungen ergeben (S. 91). Führt 
man die Grenze für die gewöhnlichen Eigenschaften der Flüssigkeiten 
mit 107% cm ein, so ergibt die Rechnung für den Druck in einem 
Bläschen von diesem Radius den Wert von 15000 Atmosphären in 
Wasser bei Zimmertemperatur. Doch ist anscheinend bei weitem nicht 
ein so großer Übersättigungsgrad erforderlich, um freiwillige - Gasent- 
wicklung zu bewirken. 
Die eben angestellten Betrachtungen finden auch auf den Fall der 
Übersättigung bezüglich fester oder flüssiger Stoffe ihre sachgemäße An- 
wendung, da ein Stoff wegen der Mitwirkung der Oberflächenenergie 
Ostwald., Grundriß. a4. Anfl.
	        
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