364
Chemische Thermodynamik
einer kleinen Menge des festen Stoffes in Berührung, so vergrößert
sich diese so lange, bis die niedrigere Konzentration der Sättigung ein-
getreten ist.
Die zur Hervorrufung der Ausscheidung erforderliche Menge des
festen Stoffes ist sehr klein, aber nicht unbegrenzt. Die Grenze ist
ungefähr dieselbe, welche für die Aufhebung der Überkaltung gefun-
den ist, und liegt bei 1078 bis 10—"° g, Da die Löslichkeit zunimmt,
wenn die Korngröße kleiner wird, so bewirken solche sehr kleine Teil-
chen Ausscheidung erst in stärker übersättigten Lösungen, und zwar
muß die Übersättigung um so größer sein, je kleiner die Teilchen sind.
Übersättigte Lösungen werden auf alle Weise erhalten, durch welche
sich in der Lösung eine größere Menge des gelösten Stoffes ansammelt,
als der Sättigung entspricht. Am einfachsten geschieht dies bei Stoffen,
deren Löslichkeit mit steigender Temperatur zunimmt, indem man eine
bei höherer Temperatur gesättigte Lösung herstellt und nach sorgfältiger
Entfernung aller festen Teilchen abkühlt. Doch kann jedes andere
Verfahren, z. B. die Erzeugung des betreffenden Stoffes auf chemischem
Wege innerhalb der Lösung, angewendet werden, welches den erforder-
lichen Überschuß ergibt.
Am meisten ist in bezug auf Übersättigung das Natriumsulfat stu-
diert worden. Versetzt man kristallisiertes Glaubersalz, das 10 H,O als
Kristallwasser enthält, mit etwa der Hälfte seines Gewichtes Wasser,
erhitzt in einem mit einem Wattepfropf versehenen Kolben bis zum
Sieden und läßt erkalten, so hat man eine Lösung, die bei gewöhn-
licher Temperatur in bezug auf Glaubersalz übersättigt ist, und beim
Hineinbringen eines Stäubchens davon alsbald kristallisiert. Da in der
Luft beständig Stäubchen dieses Salzes vorhanden sind, so genügt ein
einfaches Öffnen des Kolbens, um Kristallisation in kurzer Zeit zu
vewirken.
Kühlt man den verschlossenen Kolben auf — 10° ab, so scheidet
sich ein Salz mit 7 H,O ab, nachdem die Lösung zuerst in bezug auf
dieses Salz übersättigt gewesen war. Die überstehende Lösung ist dann
in bezug auf das neue Salz gesättigt, denn dieses löst sich bei Erhöhung,
und scheidet sich reichlicher aus bei Erniedrigung der Temperatur.
Dabei ist diese Lösung aber dauernd für Glaubersalz übersättigt, und
bildet dieses Salz, sobald ein „Keim“ davon in die Flüssigkeit kommt.
Die Fähigkeit, übersättigte Lösungen zu bilden, ist bei verschiedenen
festen Stoffen sehr verschieden; einige gestatten sehr weitgehende Über-
schreitungen, andere nur ganz geringfügige. Steigert man den Über-
sättigungsgrad (z. B. durch Abkühlen der Lösung eines Stoffes, dessen
Löslichkeit mit der Temperatur zunimmt), so gelangt man an einen
Punkt, wo die Bildung: des festen Stoffes freiwillig eintritt. Man kann
also auch hier, auf das stabile Gebiet der Untersättigung folgend, zu-
nächst ein metastabiles Gebiet unterscheiden, und weiter bei stär-
kerer Überschreitung ein labiles (S. 79). Die experimentelle Bestimmung