Full text: Grundriss der allgemeinen Chemie

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STÖCHIOMETRIE © 
Zusammensetzung gasförmiger Verbindungen bestehen, sehen wir, daß 
dieselben ganz anderer Natur sind, als die, welche sich bei den Gewichts- 
und Massenverhältnissen chemischer Verbindungen gezeigt haben. Die 
letzteren sind, wie schon mehrfach erwähnt wurde, rein additiv, d. h. die 
Masse einer Verbindung ist die Summe der Massen ihrer Elemente. Bei 
der Raumerfüllung der Gase ist aber diese Eigenschaft in gewissem Sinne 
ganz unabhängig von der chemischen Zusammensetzung. Wennich z. B. 
ein bestimmtes Volum Wasserstoff nehme, und ich verwandle diesen in 
Wasser, so ändert sich das Volum dabei nicht. Das Wasser, H,O, kann 
ich mir durch Verbindung mit Äthylen, C,H,, in Alkohol, C,H,;O, ver- 
wandelt denken: das Volum bleibt unverändert. Ich kann mir noch ein- 
mal Äthylen hinzuaddiert denken, so daß sich Butylalkohol, C,H,.O, 
bildet: das Volum bleibt wiederum dasselbe usw. Derartige Eigenschaften, 
welche für bestimmte Stoffgruppen, unabhängig von deren chemischer 
Natur und unabhängig von der Anzahl der Elemente in diesen Komplexen, 
stets denselben Wert behalten, will ich fernerhin kolligative nennen.!) 
Das Volum der gasförmigen Stoffe ist eine derartige kolligative Eigen- 
schaft. 
Ebenso, wie wir uns das Vorhandensein additiver Eigenschaften mittels 
der Atomtheorie durch die Annahme erklärt hatten, daß in den Ver- 
bindungen die Bestandteile ihrer Natur nach bestehenbleiben (S. 128), so 
erklären wir uns das Vorhandensein kolligativer Eigenschaften durch die 
Annahme von Molekeln, d. h. selbständigen Atomgruppen, welche ge- 
wisse Beziehungen nur durch ihre Anzahl, nicht aber durch ihre Natur und 
chemische Zusammensetzung bestimmen. 
Ist man darüber ins klare gekommen, daß die der Molekulartheorie 
zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten und methodischen Vorteile sich rein 
erfahrungsmäßig entwickeln lassen, so wird man sich der eingebürgerten 
Bezeichnung Molekulargewicht ferner bedienen können, ohne an die Vor- 
stellung gebunden zu sein. Für wissenschaftliche Zwecke bedeutet ein Mole- 
kulargewicht eines Stoffes immer nur eine Menge, für die die Konstante R in 
der Gasgleichung einen bestimmten, von der Natur des Gases unabhängigen 
Wert hat. Von einem Molekulargewicht darf daher zunächst nur gesprochen 
werden, wenn der betreffende Stoff im gas- und dampfförmigen Zustande 
vorliegt. An späterer Stelle wird gezeigt werden, daß es möglich ist, die 
Definition auch auf gelöste Stoffe auszudehnen. Wenn aber versucht wird, 
auch die Molekulargröße flüssiger oder fester Stoffe, die keine Lösungen 
sind, anzugeben, so ist immer erst ein Nachweis erforderlich, ob und wie 
sich die Begriffsbestimmung auf die neuen Fälle übertragen läßt. Das Vor- 
handensein kolligativer Eigenschaften läßt sich im allgemeinen als 
ein solches Kriterium ansehen, wie denn auch das Auftreten solcher Eigen- 
schaften bei Gasen auf die Schaffung dieses Begriffes geführt hat. 
1) Ich verdanke den Vorschlag zu dieser Bezeichnungsweise meinem verehrten Kollegen 
W. Wundt.
	        
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