Full text: Grundriss der allgemeinen Chemie

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CHEMISCHE THERMODYNAMIK 
Unter den gleichen Gesichtspunkt fallen notwendig auch die Erscheinungen, 
mit denen sich die Chemie speziell beschäftigt. Es kann kein chemischer 
Vorgang stattfinden, ohne daß dabei Energiezustände geändert werden, 
und ein chemischer Vorgang ist definiert, wenn die beteiligten Energien 
ıach Maß und Art angegeben sind. 
Die Energieverhältnisse sind aber nicht nur die Kennzeichen der Zu- 
stände und ihrer Änderungen, sondern sie enthalten auch die Bedingungen 
für die Möglichkeit und die Art der Vorgänge, welche stattfinden können, 
wenn bestimmte Zustände gegeben sind. Es lassen sich mit anderen Worten 
die in der Physik und der Chemie bekannten allgemeinen und besonderen 
Gesetze alle auf eine Form bringen, welche die durch diese Gesetze geregelten 
Vorgänge als Umwandlungen oder allgemeiner Beziehungen der vorhandenen 
Energien erscheinen läßt. Die Gesamtheit dieser Wissenschaften läßt sich 
daher als Energielehre oder Energetik bezeichnen, und die Reduktion 
auf diese Form ist die allgemeinste und exakteste Gestalt, die man zurzeit 
ınseren Kenntnissen geben kann. 
Diese bevorzugte Stellung verdankt die Energie dem Umstande, daß sie 
derjenige Begriff ist, der vermöge des allgemeinen Umwandlungsgesetzes 
einerseits in allen Einzelgebieten Anwendung findet, andererseits zwischen 
allen Gebieten einen Zusammenhang herstellt. 
Energie und Materie. Man hat oft der Energie die Materie voran, oder 
wenigstens zur Seite gestellt, und beide als die Grundbestandteile der phy- 
sischen Dinge bezeichnet. Indessen ist der Begriff der Materie zu unbestimmt, 
als daß man ihm eine solche Stellung einräumen könnte. Die Materie ist 
bestenfalls nur durch die Arten der Energie bestimmbar, die zusammen 
in einem begrenzten Raume vorkommen. Einen Stein nennen wif 
materiell, weil er einerseits Gewicht und Masse, d. h. Gravitationsenergie 
und die Aufnahmefähigkeit für kinetische Energie besitzt; seine weiteren 
Eigenschaften, wie Temperatur, Farbe, chemische Zusammensetzung be- 
schreiben seine Verhältnisse bezüglich der Wärme, der strahlenden, der 
chemischen Energie. Das Gesetz von der ‚Erhaltung der Materie‘, das 
dem von der Erhaltung der Energie an die Seite gesetzt zu werden pflegt, 
bezieht sich keineswegs auf alle diese Eigenschaften, sondern nur auf seine 
Masse, sein relatives Gewicht und seine chemische Elementarbeschaffenheit, 
während alle anderen Eigenschaften sich bei chemischen Vorgängen ändern. 
Jene Erhaltungsgesetze werden sich als besondere Fälle eines allgemeineren 
Energiegesetzes ausweisen. Als eigenartig bleibt nur der Umstand übrig, 
daß alle die genannten Energien in dem gleichen Raume nebeneinander 
bestehen und gleichzeitig miteinander fortbewegt werden können. Diese 
Tatsache des Zusammenbleibens der Energien ist die einzige, welche als 
eine Eigentümlichkeit eines Dinges, das wir Materie nennen, in Anspruch 
genommen werden könnte; es kann nicht behauptet werden; daß darin etwas 
von dem Energiebegriff Unabhängiges enthalten ist, 
Es ist oft gefragt worden, was denn die Energie sei. Eine vollständige 
Definition gibt natürlich nur die Beschreibung ihres Verhaltens, welche
	        
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