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CHEMISCHE THERMODYNAMIK
die Lehre vom chemischen Gleichgewicht tatsächlich die Lehre von den
gegenseitigen Beziehungen zwischen chemischer und mechanischer, speziell
Volumenergie ist.
Es erhebt sich alsbald die Frage nach etwaigen Beziehungen der chemi-
schen Erscheinungen zu den drei anderen mechanischen Energieformen,
Hierüber ist zu sagen, daß sie sehr ungleich entwickelt sind. Es ist be-
kannt, daß Lösungen an ihrer Oberfläche meist eine andere Zusammen-
setzung haben, als im Inneren: hier haben wir es also mit einer Beziehung
zwischen chemischer und Oberflächenenergie zu tun. Dieses Gebiet hat
in neuester Zeit als Kolloidchemie eine sehr bedeutende Entwicklung
erfahren. Ferner sind einige wenige Fälle bekannt, in denen chemische
Vorgänge durch Bewegungsenergie beeinflußt werden (Einfluß der Zentri-
fugalkraft auf chemische Gleichgewichte, Bredig 1895, Umwandlung allo-
troper Formen durch Erschütterung, Cohen), und ein gleicher Einfluß durch
die Schwere, eine Form der Distanzenergie ist gleichfalls theoretisch wie
experimentell nachgewiesen worden. Indessen sind diese Beziehungen sehr
wenig entwickelt und spielen auch in den Erscheinungen der Natur und
den technischen Vorgängen keine erhebliche Rolle, so daß sich die Mechano-
chemie lange Zeit auf die erstgenannte Beziehung zur Volumenergie be-
schränkte, Erst in neuerer Zeit ist. auch noch die Oberflächenenergie
als bedeutungsvoll erkannt worden.
Die Thermochemie., Von allen Umwandlungen der chemischen Energie
in andere Formen erfolgt die in Wärme am leichtesten und vollständigsten.
Die Thermochemie oder die Lehre von den Beziehungen zwischen Wärme
und chemischer Energie gehört daher zu den ältesten Gebieten der Ver-
wandtschaftslehre und kann auch zurzeit noch als das experimentell am
vollständigsten bearbeitete bezeichnet werden.
Die Wichtigkeit einer genauen Kenntnis der Beträge chemischer Energie
ergibt sich, wenn man sich die Frage nach den Quellen und Vorräten der
Energie stellt, welche für die technisch und physiologisch wichtigen Vor-
gänge verwendet werden. Es zeigt sich dann, daß zunächst alle in der
Technik verwerteten Energiequellen chemischen Ursprungs sind, indem
3ie auf die Verbindung der Elemente der Brennmaterialien mit dem Sauer-
stoff der Luft zurückgehen. Dazu kommt aber noch, daß auch die gesamte
Lebenstätigkeit aller Organismen sich ausschließlich auf chemische Vor-
gänge und die bei denselben freiwerdende Energie gründet. Die chemische
Energie ist somit diejenige Form, welche von allen am meisten und häufigsten
in Frage kommt, und welcher im Haushalte der Natur der erste und um-
{assendste Platz eingeräumt ist. ;
Die Geschichte der‘ Thermochemie beginnt demgemäß mit technischen
und physiologischen Problemen, welche von Lavoisier und Laplace,
Rumford, Dulong, Despretz u. a. gestellt und zu lösen versucht wurden.
Eine prinzipielle Grundlegung nach einer Seite rührt von den erstgenannten
her, welche den Satz aufstellten, daß zur Zerlegung einer Verbindung eben-
soviel Wärme erforderlich sei, wieviel bei ihrer Bildung aus den Elementen