DIE CHEMISCHE VERWANDTSCHAFT
Ion im Gleichgewicht steht. Auch hierfür ist früher (S. 488) ein Beispiel ge-
geben worden.
Reaktionsgeschwindigkeit. Das chemische Gleichgewicht ist durch die
Bedingung gekennzeichnet, daß die möglichen Verschiebungen des Zustandes
unendlich wenig Arbeit erfordern oder ausgeben. Hierdurch wird die Be-
stimmung desselben eine Aufgabe der Energetik, und es ist eindeutig fest-
gestellt, wenn diese Arbeiten in ihrer Abhängigkeit von der relativen Menge
der möglichen Stoffe bekannt sind.
Daß eine chemische Reaktion, der eine Geschwindigkeit zukommt, ein-
treten wird, wenn die allgemeine Gleichgewichtsbedingung nicht erfüllt ist,
läßt sich gleichfalls energetisch begründen; ferner, daß unter sonst gleichen.
Umständen die Geschwindigkeit, mit welcher die Reaktion bei mangelndem
Gleichgewicht stattfinden wird, der Entfernung vom Gleichgewicht propor-
tional sein wird. Wie diese Entfernung vom Gleichgewicht zu messen ist,
ergibt sich aus der Gestalt für die Gesetze der Reaktionsgeschwindigkeit
{S. 317 u. ff.).
Hierdurch wird festgestellt, daß erstens ein Vorgang mit einer endlichen
Geschwindigkeit eintritt, und daß zweitens die nacheinander folgenden Teile
des Vorganges in Zeiten verlaufen, die in gesetzmäßiger gegenseitiger Abhängig-
keit stehen. Dagegen wird nicht festgestellt, welches der absolute Betrag
der Zeit ist, in welcher sich ein bestimmter Bruchteil der Reaktion vollziehen
muß. Die genannten Gesetze können befriedigt werden, ob die Umwandlung
von einem Prozent des Gesamtbetrages eine Sekunde oder ein Jahr beansprucht.
Auch durch die Beziehung der Geschwindigkeiten zweier entgegengesetzter
Reaktionen, die zu einem Gleichgewicht führen, auf die Verhältnisse dieses
Gleichgewichts wird keine absolute Bestimmung der Geschwindigkeit erzielt.
Ist eine Geschwindigkeit‘ und das Gleichgewicht gegeben, so ist auch die
andere Geschwindigkeit bestimmt; aus dem Gleichgewicht allein kann man
aber nur das Verhältnis beider Geschwindigkeiten ableiten, und ihr absoluter
Wert kann jeden beliebigen Betrag annehmen.
Die Erfahrung entspricht diesen allgemeinen Überlegungen in sehr auf-
f{älliger Weise. Durch Umstände, die auf das Gleichgewicht keinen oder nur
einen geringen Einfluß ausüben, läßt sich die Geschwindigkeit außerordentlich
verschieben. Ein bekanntes Beispiel hier ür ist die Bildung der Ester aus
Säuren und Alkoholen; während die Reaktionsgeschwindigkeit sich durch
eine Temperaturerhöhung von etwa 100% vertausendfacht, erleidet dadurch
das Gleichgewicht infolge der geringen Reaktionswärme eine so unerheb-
liche Verschiebung, daß diese experimentell kaum nachweisbar ist. - Ferner
vesteht der Einfluß der Temperaturerhöhung grundsätzlich in der Erhöhung
der Geschwindigkeit, während sie das Gleichgewicht in einem wie im anderen
Sinne verschieben kann.!) Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten hierüber sind
bereits (S. 371) mitgeteilt worden. -
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‘) Es gibt einige wenige Fälle, wo die Reaktionsgeschwindigkeit mit steigender Tem-
peratur abnimmt. Es ist noch nicht ermittelt, welche besonderen Umstände hierbei maß-
gebend sind.