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kümmert sich um sein weniges Gymnasialgriechisch gar nicht mehr,
und auch von dem Latein wird er meistens 99/100 vergessen, ohne
auch nur bei der Staatsprüfung in Verlegenheit zu kommen. In
der Praxis entäussert er sich aber alles gelehrten Krams; nur darf
er die paar Apothekerausdrücke für das Receptschreiben nicht ver-
lernen; denn hier spielen die Reste der heiligen Sprache eine wahr-
hafte Priesterrolle gegen das profane Laienvolk. Hiemit sind wir
aber auch schon auf dem Niveau des blossen Apothekers angelangt,
und für dessen Büchsen wird man doch wahrlich nicht die classisch
lateinische Literatur auf den Gymnasien tributpflichtig und zum
Hauptdrillungsmaterial der armen gequälten Zöglinge gemacht haben
wollen. Um bei dieser Gelegenheit noch einmal an den Juristen zu
erinnern, so wird auch dieser in der selbständigen Praxis und zum
Theil sogar schon, wenn er über die erste, noch viel todte Gelehr-
samkeit athmende Prüfung hinaus ist, seine altsprachliche Bedürf-
tigkeit mit Behagen der Vergessenheit anheimgeben und Angesichts
des wirklichen Lebens und der neuern Gesetzbücher sich durch den
Gedanken erheben, welcher classisch romantischen Täuschung er
nun glücklich entwachsen sei. Der nachdenkende Mediciner aber
wird sich sagen, dass er, um auch einmal aus Neugier in den Hippo-
krates hineinzusehen, mit seinem unzulänglichen Gymnasialgriechisch
doch nicht ausgereicht, sondern zu Herrn Littres schöner Franzö-
sischer Ausgabe oder auch zu einer Deutschen Uebersetzung hätte
seine Zuflucht nehmen müssen. Uebrigens wird er wissen, dass
trotz einiger guter Maximen, über welche die Heilkunde und die
Betrachtungsart der Krankheiten in den 2000 Jahren nicht hinausge-
kommen ist, doch der jetzige Hauptlernstoff im Naturwissenschaftlichen
liege, worin die Alten bekanntlich weniger als Kinder gewesen sind.
Was an der Medicin nicht priesterartig dunkel, autoritär und aber-
gläubisch ist, stammt zum überwiegenden Theil aus der modernen,
ja soweit es sich um die Geltendmachung besserer Grundlagen des
Naturwissens handelt, erst aus der allerneusten Zeit. Die Aus-
merzung des Verkehrten ist ein Haupttheil der Fortschritte gewesen,
und hiebei war die Altsprachlichkeit nicht ein Förderungsmittel,
sondern eine Hemmung. In der That scheint man auch regierungs-
seitig noch am ehesten geneigt, bei den medieinischen Facultäten ein
Zugeständniss zu veranlassen und Realschulbildung, die freilich bei
uns noch Latein, aber nicht Griechisch einschliesst, als genügende
Vorbedingung einzuführen.
In Wahrheit ist das angedeutete Stück Mittelalter und Kirchen-