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selbst zu schämen, sondern allein der Unkeuschheit. Dem
Weibe wird also nicht mehr Unwissenheit um das. Natür-
liche und kindisches Grauen davor als Tugend angerechnet;
und der Mann nicht von seinem redlichen Anteil an dieser
edlen Tugend entbunden, ja wohl der schwerere Teil der
Verpflichtung und Verantwortlichkeit dabei ihm auferlegt.
Endlich kommt so erst die positive Seite der Reinheit zu
voller Anerkennung. Es ist begreiflich, daß gegenüber dem
gewaltigsten aller natürlichen Triebe der negative Sinn der
owpo00UyN Sich vorzugsweise aufdrängte; im letzten Grunde
aber erschöpft sie sich auch hier nicht im Unterlassen oder
passiven .Geschehenlassen, sondern entfaltet ihre ganze Tiefe
erst in der Position, in der Energie des Tuns. Sie verneint nicht
das Triebleben, sondern bringt es vielmehr erst zu seiner
gesunden und damit kraftvollen Entfaltung. Die Fortpflanzung
der Menschheit in leiblicher und seelischer Gesundheit ist der
keuschen, nicht der unkeuschen Liebe anvertraut. Auch diese
Tugend ist eine der mächtigsten Beweisungen der Lebensenergie
der Menschheit?).
Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben
nicht ausrotten oder entkräften oder bloß bändigen wie ein
wildes Tier, sondern es nach Möglichkeit unversehrt in den
Dienst unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer
wesentlichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen
vergeblichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde
und reine, d. i. ihrem innern Gesetz gemäße Entfaltung im
Menschen zielen kann...
So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sittlichkeit
in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehung zur Natur.
Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der vorigen Tugen-
den, die Erhebung alles Natürlichen, soweit irgend es dessen
fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles menschliche Tun
und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit zugekehrte Seite,
es beruht nicht auf Vernunft und Willen allein, sondern hat
noch einen Naturgrund, den wir allgemein mit „Trieb“ be-
1) Vgl. zu der Frage den Aufsatz „Über Sinnenglück und Seelen-
frieden‘“, in der Zeitschrift „Die Wahrheit“, Bd. 8, 5. 65 ff.