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Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte ÄAllgemein-
verbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere Tugend
direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch sie.
Insofern rückt sie der Tugend der „Wahrheit“ sehr nahe; sie ist
die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Ausdrücken wie
Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den Andern) kommt dies
Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit ist immer etwas
wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, Lüge hebt die ‚sittliche
Gleichheit. und folglich die Gemeinschaft auf; ‚der gleiche
Boden, auf dem man sich gegenüberstehen soll, kann nur der
der Wahrheit sein.
Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit
die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewalttat oder Überlistung,
zum - Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch in jeder
verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher Verworren-
heit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren Forderungen der
Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Vergessenheit bringen
kann, geschieht jeder. Ungerechtigkeit und damit der Zer-
störung der Gemeinschaft Vorschub, auch in Dingen, die mit
diesem besonderen Instinkt nicht zusammenhängen; denn jeder
beliebige andere (persönliche oder Klassen-) Instinkt fordert
dann mit gleichem „Recht“ -— mit dem Rechte seiner Macht —
in dem Grade als er (im Einzelnen 'oder einer Klasse) stark ist,
sich durchzusetzen. Gerechtigkeit, Gleichheit werden zu leeren
Namen, wo nicht mehr Anerkennung findet, daß in keinem
Falle blinde Sympathieen und Antipathieen, oder allgemein
die Stärke nun einmal vorhandener Strebungen und Gegen-
strebungen, das gegenseitige Verhalten außerhalb sittlicher
Rücksicht bestimmen dürfen. In der Leidenschaft des Rassen-
und Nationalhasses, nicht minder des Klassenhasses ist gerade
dies das Gefährliche, die wie systematische Untergrabung jedes
Gerechtigkeitssinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher
Gemeinschaft.
So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der Klar-
heit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der Wahrheit
zusammen. Daß sie nicht minder die Energie des sittlichen
Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus. dem eben