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dabei nicht überschwänglich werden, so bedarf er des Rüst-
zeugs der Kritik, jener Selbstkritik ästhetischer „Urteils-
kraft“, wie sie Kant und Schiller uns verstehen gelehrt haben.
In ihr findet die ästhetische Bildung ihren Abschluß im gleichen
Sinne wie die theoretische in der Kritik der theoretischen, die
sittliche in der der sittlichen Vernunft; ihren Abschluß nämlich
in dem Sinne, daß die Zeit der Schulung damit sich vollendet,
deren Gewinn aber durchs ganze Leben sich erhalten und
mehren und sichern soll.
So bewährt sich durchgehends die Harmonie der drei Grund-
kräfte der Bewußtseinsgestaltung auch im Stufengang der
Erziehung, so wie es nach ihrem inneren Verhältnis zu einander
auch erwartet werden durfte. Auf Einzelausführungen: ver-
zichte ich, so lockend die Aufgabe ist, und so dienlich sie sein
möchten, unsern Schlußfolgerungen, die hier allzu ausschließ-
lich deduktiv konstruiert erscheinen müssen, etwas mehr
Glauben zu verschaffen. Nur angedeutet sei, daß für das naive
Alter folgerecht die mehr naive dichterische und bildnerische
Gestaltungsweise, also besonders die der Alten und was bei den
Modernen dieser gleichartig ist, dagegen erst für die letzte
Stufe die vollbewußte Weise der eigentlich modernen ästhe-
tischen Schöpfung gehört; so wie in der Musik etwa für die
erste Stufe Volkslied und Choral ausreichen, für die zweite
die höchst formvolle, kunstverständige, in der Empfindungs-
höhe aber noch fast kindliche Gestaltungsweise Mozarts, aber
auch die ersten Elemente der wie naturgesetzlich gefügten
Polyphonik Bachs, dagegen namentlich Beethoven sicher erst
für die dritte gehört; womit ich nicht vermeine, irgendwem
etwas Neues zu sagen, sondern nur darauf hindeuten will, mit
welcher Sicherheit hier die Praxis den Weg von selber ein-
geschlagen hat, den die verwegene Deduktion auch dann vor-
zeichnen müßte, wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre.
So wird man uns auch nicht bestreiten, daß das scharf unter-
scheidende Merkmal moderner ästhetischer Gestaltung. liegt
in dem Durchgang durch die bewußteste Kritik, und dem seit
unsrer klassischen Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis
der ästhetischen Schöpfung ‚mit der strengsten Arbeit der