8 I. Die geschichtliche Entwicklung der Anschauungslehre,
schauungsgedanke bei Pesfalozzi erst verhältnismäßig spät,
um die Wende des Jahrhunderts, entsteht, so ist man sehr
versucht, anzunehmen, daß Pestalozzi den Anschauungsbe-
griff Kant entlehnt und seinen erzieherischen Zwecken ent-
sprechend umgestaltet hat. Und Yoch ist es vermutlich nicht
so gewesen. Pestalozzi nahm einfach das Wort Anschauung
in der Bedeutung, die es im täglichen Leben hat, und wo-
nach es die aufmerksame Betrachtung eines Gegenstandes
bedeutet, und ihn trieb ursprünglich nur der ganz der Auf-
fassungsweise seiner Zeit entsprechende Gedanke, daß in
einer solchen aufmerksamen Betrachtung, d. h. in der sinn-
lichen Wahrnehmüung, die Grundlage alles Wissens zu suchen
sein müsse.
Die Entwicklung des Wissens aus den Wahrnehmungen
dachte sich Pestalozzi aber immer mehr so — und das ist
das ihm Eigentümliche —, daß gewisse Regelmäßigkeiten
in den räumlichen Verhältnissen der wahrgenommenen Dinge
herausgegriffen, und auch so, daß Gegenstände und Bilder,
die bestimmte Regelmäßigkeiten zeigen, erzeugt werden,
Sein Augenmerk richtet sich immer mehr auf die geome-
trischen Tatsachen. Die Ableitung dieser Tatsachen aus
der sinnlichen Wahrnehmung ist es, was er als Anschau-
ungskunst bezeichnet, „Wenn man,“ sagt er in der Schrift
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801)*, „die Anschauung
im Gegensatz der Anschauungskunst einzeln und für sich
betrachtet, so ist sie nichts anderes als das bloße vor den
Sinnen Stehen der äußeren Gegenstände und die bloße
Regmachung des Bewußtseins ihres Eindruckes.“ Das ist
aber genau dasselbe, was Kant als empirische Anschauung
bezeichnet, und hierin brauchen wir nicht einmal ein be-
sonders merkwürdiges Zusammentreffen zu finden, denn
der Begriff der Anschauung in diesem Sinne war eben zu
jener Zeit bereits klar ausgeprägt. Schon in dem Aufsatze
Von der Erziehung aus dem Jahre 1782 spricht Pestalozzi
vom genauen Anschauen als der Frucht eines festen, nicht
schwankenden und nicht irregeleiteten Beobachtungsgeistes.