230 XI. Charaktererziehung in der Familie
zu neuem Handeln, zu neuem Schaffen, zu immer
stärkerem Ringen nach Wahrheit. Es erwächst
nicht die Sucht, das zu wollen, was andere
machen, noch viel weniger die Sucht, etwas zu
wollen, weil es andere machen, sondern es er-
wacht die Lust und die Kraft, das eigene Seelen-
leben in der ihm eigenen Handlungsweise und
Sprache darzustellen. Man erkennt leicht, daß
dieser Weg zugleich der einzige ist, der nach Ab-
schluß der ursprünglich notwendigerweise immer
heteronomen Erziehung die beste Gewähr für die
autonome Charakterbildung liefert.
Das einzige, was man ganz allgemein von der
Familienerziehung fordern kann, ist das, was
Goethe schon als Grundlage aller Erziehungs-
erfolge bezeichnet hat, die Erziehung zur Ehr-
furcht. Sinn hat diese Forderung auf die Dauer
natürlich nur da, wo die Personen der Familie,
denen zunächst Achtung und Ehrerbietung zu er-
weisen sind, selbst Träger von unbedingt gelten-
den Werten sind. Achtung und Ehrerbietung ist
nichts, was man erzwingen kann. Erzwingen kann
man nur die äußeren Formen. Ein Familienleben,
das sich nicht in der Wahrung solcher Formen
gegenseitiger Achtung bewegt, ist eine schlechte
Erziehungsstätte. Erst aus der Achtung vor den