I. Kapitel: Wissenschaftliche Leistungen im „saeculum philosophicum“‘, 155
Bedeutungsvoll für die Stellung, die die Mathematik innerhalb der
gesamten kulturfördernden Arbeit des philosophischen Jahrhunderts ein-
nimmt, ist die Tatsache, daß die größten Mathematiker, wie Euler und
Monge, nicht einseitige Männer der theoretischen Fachwissenschaft sind,
die den Aufgaben des praktischen und sozialen Lebens fremd gegenüber-
stehen. Euler besaß eine große allgemeine Bildung, hatte gründliche
Kenntnisse in der Geschichte, der Medizin, der Botanik, der Chemie,
Unter seinen Arbeiten befinden sich auch hervorragende Leistungen
auf den Gebieten der Physik, der Astronomie, der Mechanik, der Ballistik
und der Nautik. So trägt eine seiner Preisschriften den Titel: Sur la mäture
des vaisseaux, und an seinem Todestage noch beschäftigte er sich mit
mathematischen Berechnungen über die Luftschiffahrt. Während seines
25 jährigen Aufenthalts in Berlin, während dessen er 250 zum Teil recht
umfangreiche mathematische Arbeiten und Abhandlungen geschaffen hat,
findet er nicht nur Zeit, den jungen König Friedrich II. in einer besonde-
ren Schrift „de matheseos sublimioris usu‘ aufzuklären, sondern er be-
tätigt selber praktisch diesen Nutzen. In unmittelbarem Auftrage des
großen Königs beschäftigt er sich mit der Artillerie, übersetzt das seiner
Meinung nach beste Werk darüber, das des Engländers Robin, ins Franzö-
sische, unterzieht das Nivellement des Finowkanals einer revidierenden
Prüfung, verfaßt Gutachten über die Salzwerke zu Schöneberg, über die
Wasserwerke zu Sanssouci und liefert die mathematischen Berech-
nungen, die der von Friedrich 11. eingerichteten Witwenpensionskasse als
Grundlage dienten. Gaspard Monge (1746 —1818) war ‚Mitglied der be-
rühmten Kommission, die der Welt das Metermaßsystem schenkte, das
in Frankreich durch ein Gesetz vom 30. März 1791 eingeführt wurde.
Zwei Jahre lang war er Marineminister der französischen Republik, dann
betätigte er sein Genie in der Herstellung von Kanonen und Flinten-
pulver, half die 6cole normale (1794) und die &cole polytechnique (1795)
gründen, deren berühmtester Lehrer er wurde. Im Auftrage der Republik
mußte er sich nach Italien begeben, um die Auswahl der Gemälde und
Statuen zu leiten, die nach Paris geschickt werden sollten. Dort wurde
er mit Napoleon bekannt, dessen Genie er bewunderte, ja er wurde sein
persönlicher Freund, Bonaparte nahm ihn mit nach Ägypten, wo er
die Flußmühlen im Nil anlegte, die die armee d’Egypte mit Mehl versorgten,
und das Institut d’Egypte gründete. Wer das Leben und die Tätigkeit
Eulers und Monges verfolgt, dem drängt sich neben dem Gefühl der
Bewunderung für diese beiden Männer mit unwiderleglicher Klarheit
die Erkenntnis auf, welchen hohen Kulturwert die mathematische Wissen-
schaft besitzt. Napoleon selbst war von diesem Kulturwert überzeugt; er
schätzte und förderte die Mathematik so sehr, daß er mitten im Kriege
gegen Österreich sich die Zeit nahm, mit Mascheroni mehrmals über seine