Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

l. Kapitel: Leistungen und Kulturfortschritt im saeculum historicum. 235 
wollte man diejenige Geistesrichtung, die auch alle rein geistigen Vor- 
gänge und Denkprozesse auf materielle und mechanische Vorgänge zurück- 
führt, als die das Geistesleben des ganzen Jahrhunderts beherrschende 
kennzeichnen. 
Dagegen durchzieht der Sinn für das Historische das wissenschaftliche 
Leben des ganzen Zeitraums von Anfang bis zu Ende, ja er dauert noch 
bis in die gegenwärtige Zeit hinein fort. „Die Philosophie Fichtes und Hegels 
ist wesentlich Philosophie der Geschichte,“ und alle ihre Nachfolger von 
Schleiermacher bis Trendelenburg, Zeller und Lotze wenden sich nament- 
lich dem Studium der Geschichte der Philosophie zu, Herbart und Schopen- 
hauer ausgenommen. Auch in der Theologie, der Jurisprudenz und in 
der Literatur tritt die historische Forschung in den Vordergrund. Die 
Mathematik und die Naturwissenschaften vermögen sich dem Zuge zum 
Historischen nicht zu entziehen, immer mehr widmet man dem geschicht- 
lichen Werden dieser Wissenschaften seine Aufmerksamkeit, und gerade in 
den letzten beiden Dezennien beginnt mit dem Erscheinen des klassischen 
Werkes von Cantor: „Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik“ 
und von Zeitschriften, die lediglich der Geschichte der Mathematik und 
der Naturwissenschaften gewidmet sind, eine Blüteperiode der geschicht- 
lichen Forschung auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften. Dieser 
allen Wissenschaften gemeinsame Zug zum Historischen läßt für das 
19. Jahrhundert den Beinamen „das historische“ gerechtfertigt erscheinen. 
Neben der durch die historische Forschungsarbeit gewonnenen Ver- 
tiefung der Einsicht in das geschichtliche Werden der mathematischen 
Wissenschaft macht diese selbst ganz bedeutende Fortschritte, die nicht 
nur ganz neue Gebiete dem mathematischen Denken erschließen, sondern 
auch ihre Verwendbarkeit als naturwissenschaftliches Forschungsmittel 
erhöhen. Es wird ein dauernder Ruhmestitel des deutschen Volkes bleiben, 
daß seine Mathematiker unter den Förderern dieser Wissenschaft in jenem 
Zeitraum die führende Stellung einnehmen. Wohl waren an der durch 
Napoleons Fürsorge entstandenen &cole polytechnique zu Paris ganz: be- 
deutende Mathematiker tätig, wohl kommen von dort aus eine große Anzahl 
mustergültiger Lehrbücher der höheren Mathematik, die den deutschen 
Lehrbüchern als Vorbild gedient haben, jedoch schon Gauß allein würde 
ausreichen, um Deutschland unter den Förderern der mathematischen 
Wissenschaft den Vorrang zu sichern. Alle Gebiete, auf denen dieser ge- 
waltige Geist seine Denkkraft betätigt hat, die Zahlentheorie, die Lehre 
von den Gleichungen, die Geodäsie, die Astronomie, die Potenzialtheorie, 
die theoretische Physik wie auch die Experimentalphysik sind durch ihn 
in hervorragender Weise gefördert und auf eine höhere Stufe wissenschaft- 
licher Vollendung emporgehoben worden. Die Spuren seiner Geistesarbeit 
auf den erwähnten Forschungsgebieten sind unzerstörbar und sichern ihm
	        
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