236 V. Abschnitt: Das neunzehnte Jahrhundert.
für alle Zeiten und bei allen Völkern den Beinamen eines Königs der
Mathematiker, des princeps matheseos.
So unbestritten Gauß in seinen wissenschaftlichen Leistungen Euler,
den er als seinen großen Lehrmeister verehrt, noch überragt, so steht
er doch hinsichtlich seiner Bedeutung als Lehrer hinter diesem zurück.
Alle von Gauß veröffentlichten Arbeiten sind wissenschaftliche Großtaten
von beispielloser Vollendung, sind wissenschaftliche Kunstwerke von
wahrhaft klassischer Schönheit. Allein sie gewähren nirgends auch nur
den leisesten Einblick in den Gedankengang, der ihn zu dem Ergebnis
geführt hat, ja der Weg, auf dem er zu seinen bewunderungswürdigen
Entdeckungen gelangte, wird absichtlich von ihm verschleiert. Was
Gauß veröffentlichte, war stets vollständig zum Abschluß gebracht, war
das fertige Gebäude, von.dem alle Zurüstungen und Hilfsmittel, die
zu seiner Aufführung gedient hatten, auf. das sorgfältigste entfernt wor-
den waren, da er von dem Grundsatz geleitet wurde, man dürfe dem
fertigen Gebäude nichts mehr vom Baugerüst ansehen. Auf der höch-
sten Zinne seiner Wissenschaft stehend, legte er. auf seine akademische
Lehrtätigkeit wenig Wert, kümmerte sich daher noch weniger um den
Betrieb der Mathematik auf den höheren Schulen. Während Euler noch
Generationen hindurch, ja bis in die Gegenwart hinein, für die Vortrags-
weise der Mathematik auf den höheren Schulen von maßgebender Be-
deutung geblieben ist, hat Gauß keinen direkten Einfluß auf die schul-
mäßige Behandlung der Mathematik. ausgeübt. Gleichzeitig mit Gauß
{1777—1855), sowie auch in der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
finden wir auf den Lehrstühlen deutscher Universitäten eine ganze Anzahl
bedeutender Mathematiker, durch die Deutschland hinsichtlich der Mathe-
matik die erste Stelle unter allen Kulturstaaten behauptet. Während in
Frankreich Fourier die Gleichungslehre um seine‘ Methode der Auffindung
der Wurzeln einer numerischen Gleichung zwischen zwei Werten von x
bereichert, Sturm (1803—1855) den nach ihm benannten langatmigen Satz
aufstellt, der auf einfachste. Weise die Anzahl aller reellen Wurzeln einer
reellen Gleichung und ihre Begrenzung finden lehrt, Cauchy (1789— 1857)
eine Methode zur Integration partieller Differentialgleichungen 1. Ordnung
Äindet und den nach ihm benannten Fundamentalsatz über bestimmte
Integrale zwischen imaginären Grenzen entdeckt, während es dem schwedi-
schen Mathematiker Abel (1802—1828) gelingt, die Unlösbarkeit einer
Gleichung von höherem als dem 4. Grade zu beweisen, wofern sie nicht
den nach ihm benannten „Abelschen Gleichungen‘‘ angehört, löst Pfaff
(1765—1825) schon vor Cauchy das Integrationsproblem der partiellen
Differentialgleichungen, bearbeitet Jacobi (1804—1851) in neuer, grund-
legender Weise die Theorie der elliptischen Funktionen, später auch die
der mehrfach periodischen Funktionen und entwickelt in neuer, frucht-