11. Kapitel: Unterricht unter dem Einfluß der staatlichen Verfügungen, 309
selbsttätigen Auffindung von Lehrsätzen; den Mittelpunkt des mathe-
matischen Unterrichts bildet die Aufgabe, Beseitigung des Zufalls oder der
„Kniffe‘“ in der Lösung von Aufgaben durch Aufstellung möglichst all-
gemeiner Lösungsmethoden. Durch die Befolgung dieser Prinzipien, sowie
durch die stete Beobachtung der Regel, den mathematischen Unterricht
so zu gestalten, daß er in innigem, teils ergänzendem, teils förderndem
Zusammenhange mit allen übrigen Lehrfächern bleibt, gewinnt die Mathe-
matik am Ende des 19. Jahrhunderts eine so ausgedehnte Bedeutung für
die Ausbildung des jugendlichen Geistes, wie sie kaum ein anderes Lehrfach
aufzuweisen hat, so daß die Ansicht des Stuttgarter Professors Dillmann
berechtigt erscheint, nach welcher die Mathematik dazu berufen ist, die
Fackelträgerin einer neuen Zeit zu werden.
Ebenso wie in der Mathematik so ist auch in der Physik der Schul-
betrieb von dem Hochschulunterricht abhängig. Bis in die zweite Hälfte
des Jahrhunderts hinein bleibt der Vortrag über Physik an den Univer-
sitäten noch den Professoren der Mathematik überlassen, wenn nicht gar
Naturphilosophen ihrem Spekulationsgeist in der Physik die Zügel schießen
Jassen. Nicht jede Universität hat das Glück, wie Göttingen in Gauß ein
Genie zu besitzen, das die Physik ebenso tatkräftig fördert wie die Mathe-
matik. Erst im sechsten und siebenten Jahrzehnt beginnen Fachphysiker
die Lehrstühle der Physik auf den Universitäten auszufüllen. Als Helm-
holtz 1838 Physik studieren will, gilt diese noch als eine brotlose
Kunst,1®) und er muß sich dem Studium der Medizin zuwenden, um So zum
Studium der Physik zu gelangen. Seine Entdeckung des Augenspiegels
hat er als Professor der Physiologie in Königsberg gemacht. Den oszilla-
torischen Charakter des elektrischen Funkens entdeckt er als Professor
der Anatomie und Physiologie in Bonn (1855—58). Die Lehre von den
Tonempfindungen und die physiologische Optik veröffentlicht er als
Professor der Physiologie in Heidelberg (1858—1871). Erst 1871 wird er
als Professor der Physik nach Berlin berufen, um dort Magnus’ Nachfolger
zu werden. Auch dieser hat sich anfangs der Chemie und der Technologie
zugewendet und erst später sich ganz der Physik gewidmet. Wie schlecht es
um die Ausstattung der physikalischen Kabinetts bis 1870 sogar an der
Berliner Universität bestellt gewesen ist, beweist die Tatsache, daß Magnus
seine Vorlesungen in seinem eigenen Hause mit seinen eigenen Instrumenten
abgehalten hat, und aus seinen eigenen Mitteln die stattliche Sammlung
der physikalischen Apparate beschafft hat, die, nach seinem Tode vom
Staate angekauft, den Grundstock des Kabinetts am physikalischen Institut
zu Berlin bilden. Den Universitäten fehlen in der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts noch die Mittel, würdig ausgestattete physikalische Institute ein-
zurichten. Erst in der zweiten Hälfte beginnt man allmählich den bloßen
Demonstrationsvortrag nicht als das letzte Ziel eines Physiklehrers an der