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I. Abschnitt: Altertum und Mittelalter.
hochentwickelte Arithmetik und Algebra. Die in unseren Schulen gebräuch-
liche Formel für die Lösung der Gleichung zweiten Grades findet sich in
derselben Form schon in dem Werke des indischen Mathematikers Brahma-
gupta (600 n. Chr.). Ein Auszug aus diesem Werk wurde 820 n. Chr. in
Bagdad von Muhamed ben Musa ins Arabische übersetzt und dabei gleich-
zeitig überarbeitet, Dies Buch ben Musas ist das erste, das die Bezeich-
nung Algebra trägt; dieser Name ‚rührt von algebr = Ergänzung her,
nach dem Verfahren der Entfernung der negativen Glieder auf beiden
Seiten einer Gleichung durch „Ergänzung‘“ der gleichen positiven Werte.
So erhält das Wort Algebra schon durch die Araber die Bedeutung: Lehre
von den Gleichungen.
Arithmetik, Algebra und Trigonometrie sind die Zweige der Mathe-
matik, in denen sich die Araber namentlich betätigt und für alle Zeiten
deutliche Spuren ihres Geistes hinterlassen haben. Nicht als ob die Araber
die Geometrie ganz vernachlässigt hätten. Ihre geometrischen Leistungen
sind im Gegenteil ganz ihrer großen Lehrmeister Euklid, Apollonios,
Archimedes, Eratosthenes, Heron, deren Werke in arabischen Übersetzun-
gen bei ihnen verbreitet waren, würdig. Mit Vorliebe beschäftigten sie sich
mit solchen schwierigen geometrischen Aufgaben, zu deren Lösung eine
Gerade und ein Kreis nicht mehr ausreichen, sondern zu deren Lösung
der Schnitt zweier Kegelschnitte erforderlich ist. Abul Wafas angenäherte
Konstruktion des regelmäßigen Siebenecks, Albirunis Konstruktion des
regelmäßigen Neunecks haben sich durch alle Jahrhunderte hindurch
erhalten. Von den drei arabischen Brüdern Muhamed, Ahmed und Alhasan
{um 850) stammt die sog. Gärtnerkonstruktion der Ellipse mittels eines an
zwei Punkten festgehaltenen, durch den Zeichenstift gespannten Fadens.
Alsidschi (um 975), dem wir diese Nachricht verdanken, gibt eine ein-
fache Lösung der Dreiteilung des Winkels mittels eines Kreises und einer
Hyperbel, die ihn als einen gelehrigen Schüler der griechischen Geometer
zeigen und die wohl verdiente, auch in unseren Schulen geübt und so der
Vergessenheit entrissen zu werden. Allein die geometrischen Leistungen
gehen nirgends über die eines Apollonios hinaus, noch zeigen sie die Keime
einer neuen, fruchtbaren Behandlung geometrischer Probleme.
Was die arabischen Mathematiker von ihren griechischen Lehrmeistern
unterscheidet, ist die Geschicklichkeit, mit der sie ihrer besonderen mathe-
matischen Begabung und Geistesrichtung gemäß geometrische Aufgaben
in algebraische Gleichungen einzukleiden verstehen. Von den griechischen
Mathematikern erfreute sich daher Diophant bei ihnen eines besonderen
Ansehens. Wie gut sie es verstanden, die mathematischen Leistungen
der Griechen mit denen der Inder zu verschmelzen und befruchtend weiter
zu entwickeln, zeigen die beiden Bücher des oben genannten Muhamed
den Musa, der kein anderer als jener Alchwarizmi ist, dessen Name zu dem